piwik no script img

Archiv-Artikel

mail aus manila Mönche, Seejungfrauen und Sternenritter

Schöne, düstere Popkultur: Das philippinische Unbewusste ist durch 400 Jahre Klosterherrschaft und 50 Jahre Hollywood geprägt

„Marina, die Seejungfrau“ steht auf dem Plakat, das über der Bude auf dem Jahrmarkt hängt. Darunter ist eine junge Frau mit Fischschwanz zu sehen, die in einem Schwarm von Fischen und Seepferdchen durch ein azurblaues Meer schwimmt. Für 50 Cent darf man in die roh zusammengezimmerte dunkle Bude eintreten. In ihr liegt ein Mädchen mit Perlendiadem auf dem Kopf in einem Wasserbecken und begrüßt den Besucher mit einem holden Lächeln. Ab und zu bewegt sie sich hin und her, und dann kann man kurz einen Fischschwanz aus Latex sehen, der aus dem Wasser auftaucht und wieder verschwindet. Dann lächelt das Mädchen wieder, allerdings sieht es diesmal eher verlegen aus. Mehr gibt es nicht zu sehen.

In Deutschland würden hier schnell „Geld zurück“-Rufe laut. Aber wir sind in den Philippinen, und da ist das Wunderbare oft nicht weit von entfernt vom Billigen und Zweifelhaften. Grinsend stehen Großfamilien um das Wasserbecken und blicken staunend auf die Teenagerin, die sich da im Wasser rekelt. Die Kinder machen Stilaugen, und die Babys auf dem Arm ihres Vater bekommen etwas ins Ohr geflüstert und gucken auch ganz entgeistert. In der Bude nebenan nagt eine Frau, die in einem Käfig sitzt und nur mit Ketten bekleidet ist, für ein wohlig erschauerndes Publikum die Federn von Hühnerkadavern ab. Gelegentlich stürzt sie einen Becher mit roter Flüssigkeit herunter, bei der es sich angeblich um Blut handelt.

Irgendwo zwischen dem Bizarren und dem Fantastischen gibt es einen sozioemotionalen Bereich, in dem sich die Filippinos besonders wohl fühlen – und zwar nicht nur auf dem Jahrmarkt. Auch im Fernsehen laufen auf den besten Sendeplätzen merkwürdige Fantasyserien, in denen ein ewiger Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen tobt.

Das Gute erscheint dabei in Gestalt von jungen Frauen in Lederkostümen irgendwo zwischen Wagner-Walküre und Domina, die fliegen, zaubern und ein bisschen Kung-Fu können. Das Böse ist älter, manchmal männlich, manchmal weiblich, und wenn es die jungen Lederfrauen kurzzeitig in seiner Gewalt hat, lacht es diabolisch und schlägt mit einer Kombination aus Peitsche und „Star Wars“-Leuchtschwert auf sie ein. Umgehend flieht das Gute aus dem Kerker, in den es geworfen wurde. Am Ende stirbt das Böse von Hand der Lederfrauen, worauf hin es sich in Flämmchen oder Rauch auflöst. Die meisten Abenteuer spielen in dunklen Höhlen oder im Wald, immer sieht es irgendwie nach europäischem Mittelalter aus. Gedreht wird gern in den Parks oder dem Zoo von Manila. Beim Familienausflug am Wochenende wird man manchmal Zeuge, wie hinter dem Affenhaus Komparsen mit Keulen und in Pelzkostümen vor einer Fernsehkamera herumspringen.

„400 Jahre Kloster und 50 Jahre Hollywood“ hätte das Land hinter sich, witzeln die philippinischen Intellektuellen, und meinen damit, dass es erst eine spanische, dann eine amerikanische Kolonie war. Beide Kolonialmächte haben ihren kulturellen Einfluss hinterlassen, und in den Fantasyfilmen wird dieses verwirrende kulturelle Erbe durch den Fleischwolf gedreht. Heraus kommen bizarre Fabeln, in denen asiatisch anmutende Naturgeister gegen Armeen von Unholden kämpfen, die wie die spanischen Mönche aussehen, die das Land jahrhundertlang unterdrückt haben.

Diese düstere Unterwelt taucht in dem gerade sehr erfolgreichen Fantasyfilm „Enteng Kabisote“ im Leben einer philippinischen Mittelklassefamilie auf. Wie sie da hingekommen ist, wird nicht ganz klar, aber offenbar hatte die Familie schon vorher einen Hang zum Fantastischen. Wenn sie nicht ihre Boutique führt, gebiert die Mutter Kinder, indem sie Eier legt, die der Vater dann ausbrüten muss. Wenn das Ei zerbricht, spazieren Dreijährige heraus und verlangen nach Essen. Und Seejungfrauen gibt es auch in dem Film. Sie zeigen dem Helden Enteng Kabisote die Autoreifen und Kloschüsseln, mit denen die Menschen die Manila Bay vollgemüllt haben. Eine ökologische Aussage hat der Film daher auch. Viel Applaus und Gelächter in einem gut mit Familien gefüllten Kino am Samstagnachmittag. TILMAN BAUMGÄRTEL