kleine schillerkunde (8) : Des Meisters Listen und Geschäftssinn
Zurück zur Erde: „Götterpläne & Mäusegeschäfte“, die Schiller-Sonderausstellung im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach
Der Mann hatte noch viel vor. Unter den vielen autografen Schnipseln, Briefen und Billetten, aus denen die große bis zum 9. Oktober dauernde Sonderausstellung im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach turnusgemäß ein neues unverbrauchtes Schillerbild recycelt, finden sich auch Aufstellungen über künftige Projekte: große Pläne von der antiken Mythologie über Geschichtliches bis hin zu exotischen Seestücken, die die Erwartungshaltung eines zeitgenössischen Publikums bedienen. Wie kurz die Wege zwischen dieser Ideenbuchhaltung und dem Bereich der Produktion tatsächlich waren, belegen die ausgestrichenen, weil bereits realisierten Titel: „Maria Stuart“ oder „die Ehrenrettung der Pucelle“, besser bekannt als „Jungfrau von Orleans“. Der widerständige Stoff der halben Weltgeschichte wäre wohl in Versen gebändigt worden, hätte Schiller nur Gelegenheit gehabt, sich weiter in seiner Liste voranzuarbeiten. Alles dem dichterischen Geist untertan zu machen – das ist es wohl, was man unter Idealismus versteht.
Wie verhält sich dazu aber diese andere Aufstellung, eine bis ins Jahr 1809 voraus gerechnete Lebensplanung, die den ideellen Wert jener erhabenen Pläne in nüchterne Summen übersetzt: Schreiben bis zum fünfzigsten Lebensjahr, in sieben Jahren zehn Theaterstücke, macht so und so viele Einnahmen aus Verlags- und Theaterhonoraren, damit wären Haus und Garten abbezahlt, man hätte ausgesorgt – und könnte sich zur Ruhe setzen. Ungeachtet der idealistischen Annahme bezüglich der eigenen Lebenserwartung liegt derartigen Kalkulationen doch ein gehöriges Maß an Realismus zugrunde. „Götterpläne und Mäusegeschäfte“ haben die Kuratoren Frank Druffner und Martin Schalhorn ihre Ausstellung überschrieben. Statt Reliquien jenes in der Vergangenheit zum Halbgott verklärten Sängers menschlicher Freiheit präsentieren sie die Überreste eines in irdischen Angelegenheiten befangenen Sterblichen. Und wie bereits in dem ersten, von Schillers Totenmaske beherrschten Raum ein Obduktionsbericht die maroden Organe seines geschunden Leibes offen legt, so gewährt die Ausstellung als Ganze den Blick ins innere Getriebe des idealistischen Gedankenapparats, wo kleinliche Mäusegeschäfte das große Laufrad betreiben, das die Götterpläne in Bewegung hält.
Zeigen lässt sich nur das Sichtbare. Darin liegt für gewöhnlich die Crux von Literaturausstellungen, denn das Eigentliche und Unverwechselbare noch so einzigartiger schriftlicher Hinterlassenschaften erschließt sich nur unvollkommen hinter Glas. Indem hier jedoch der Realitätssinn eines sonst vornehmlich als Geistwesen kanonisierten Dichters im Mittelpunkt steht, kommt naturgemäß Realien eine besondere Bedeutung zu. Sie sind es, die in ihrer Gegenständlichkeit die Prätention des Idealen unterlaufen: Gestreifte Strümpfe, ein schlapper Wanderhut oder jene Dose, die an den passionierten Tabakschnupfer erinnert, von dem es heißt, er habe sich während eines einzigen Beischlafs nicht weniger als 25 Brisen gegönnt. Befremdlicher indes als solch genießerische Gelassenheit in Momenten körperlichen Aufruhrs wirkt die Geschmeidigkeit, mit der Schiller schöpferischen Furor und kühlen Geschäftssinn zu vereinbaren wusste. So autonom er sich als Ästhetiker gebärdet, so vertraut zeigt er sich mit den Abhängigkeiten von einer sich eben ausdifferenzierenden literarischen Öffentlichkeit. Um welchen Preis er sich als einer der ersten Autoren auf dem Markt behaupten konnte, das offenbart erst die doppelte Buchführung, mit der die Kuratoren seine Erfolgsgeschichte bilanzieren.
In der Gegenüberstellung von Textmontagen und Exponaten aus dem vereinigten Fundus der Weimarer und Marbacher Magazine wird gezeigt, wie der Dichter auf verschiedenen Ebenen symbolisches Kapital zu seinen Zwecken einsetzt: nicht nur in Fragen gesellschaftlicher Anerkennung, nicht nur in Freundschafts- oder Liebesdingen, sondern auch in zentralen Punkten seines Werks. Jeder neue Schaffensimpuls antwortet einer zuvor erschlossen Nachfrage: Zielgruppengerecht gibt er den löwenmutigen Tyrannenschreck, um ein andermal als biederer Mausekönig das hausbackene Gedicht von der „Würde der Frauen“ in winzigen Almanachen für „gescheute Frauenzimmer“ zu vertreiben.
„Alle steigen und ziehen nach dem Zenith empor, wie die Rakete“, liest man an einer Stelle. Lange genug haben vergangene Schillerfeiern den Blick nur nach oben gerichtet. Das Bild, das sich mit dieser Ausstellung einprägt, ist der Erde verhaftet.
Statt des bestirnten Himmels gehört zu ihm ein gut bestückter Weinkeller – eine Liste verzeichnet 22 Flaschen Champagner. Und statt auf der pathosdröhnenden Rakete des Ideals durch die Lüfte zu reiten, sieht man ihn auf einer Zeichnung linkisch auf dem Rücken eines alten Gauls. Wie gesagt, der Mann hatte noch viel vor. Doch vielleicht ist er uns in solcher Perspektive ein bedeutendes Stück weit näher gerückt.
STEFAN KISTER