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Archiv-Artikel

kleine schillerkunde (6) Sieg im Volkskrieg!

Den Freiheitskrieg der Niederlande gegen Spanien hat Schiller mit Sympathie verfolgt. Die Lektüre seiner Gedanken dazu lohnt sich noch heute

Zu Beginn des Freiheitskrieges der Niederlande gegen die spanische Krone malte Pieter Brueghel der Ältere das Bild „Kindermord zu Bethlehem“. Die dort abgebildete metzelnde Soldateska ist in roten Uniformen gewandet; ihr Anführer aber, in schwarzer Rüstung, hat unverkennbar die Gesichtszüge des Herzogs von Alba, des Kommandanten der spanischen Besatzungstruppen. Fliehendes Volk wendet sich flehend an einen Herold, der den habsburgischen Doppeladler trägt. Das dargestellte Massaker schien zeitgenössischen Betrachtern so grausam, dass die hingemordeten Kinder im Original übermalt wurden – mit den Abbildungen von geschlachteten Haustieren.

Wie kommt es, so fragt sich Friedrich Schiller in seiner „Geschichte des Abfalls der Niederlande“, dass ein friedliches, saturiertes, gänzlich unheldisches Volk die Entschlossenheit aufbringt, der größten Militärmaschine der damaligen Welt zu widerstehen und schließlich, in einem 80 Jahre währenden Befreiungskrieg, den Sieg davonzutragen? Die extreme Grausamkeit der Besatzung, wie von Brueghel dargestellt, die unbeugsame Entschlossenheit des spanischen Königs, seinen Untertanen den Katholizismus mitsamt der Inquisition wieder aufzuzwingen, die Zentralisation der Macht in der Hand der Krone, die Zerstörung der alten Privilegien – all diese Repression hätte genauso zur stummen Unterwerfung führen können wie zum lang dauernden bewaffneten Widerstand.

Für Friedrich Schiller durchwehte der Atem der Freiheit dieses einmalige Schauspiel. Er will „in der Brust meines Lesers ein fröhliches Gefühl seiner selbst erwecken und ein neues unverwerfliches Beispiel geben, was Menschen wagen dürfen für die gute Sache und ausrichten mögen durch Vereinigung“. Kant und Herder haben Schillers Werk inspiriert. Er schreibt nicht während, sondern im Vorfeld der französischen Revolution. Deren Verlauf hat ihn später enttäuscht. 1788 aber liest sich das Werk wie ein Aufruf „in tyrannos“.

All das trifft auf die Einleitung zu, denn das eigentliche Werk umfasst nur die Zeitperiode bis zum Eintreffen des Herzogs von Alba in den Niederlanden – bis 1567, also vor Beginn des eigentlichen Aufstands der nördlichen Provinzen, in deren Verlauf sich erst die Elemente des Volkskriegs herausbildeten. Obwohl Schiller zeit seines Lebens aus dem Studium der Geschichte seine dramatischen Energien bezog, war er – zu unserem Unglück – nur wenige Jahre als professioneller Historiker tätig, als Professor in Jena (ohne Besoldung).

Das Freiheitspathos dieser Einleitung teilte sich nicht nur Schillers Weimarer Freunden mit. Bis in unsere Tage bewegt uns diese Geschichte, „wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Rechte ringt“. Wer denkt da nicht an das Pathos der 60er-Jahre, an „Sieg im Volkskrieg!“?

Das Überraschende an der eigentlichen, nur die Präliminarien umfassenden historischen Erzählung Schillers besteht darin, dass es sich tatsächlich um ein bedeutendes historisches Werk handelt. Schiller verschanzt sich nicht hinter der nur scheinhaften Objektivität des späteren Historismus – Schiller nimmt Partei, legt seine Karten auf den Tisch.

Das Studium der Quellen, so weit sie ihm zur Verfügung standen, ist beeindruckend. Freilich wissen wir heute viel mehr über die objektiven Zwänge, denen die Politik der spanischen Krone unterlag, über wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge, über das feine Netz, das Philipp in seinen Schiller unbekannten Korrespondenzen spann. Auch verwendet Schiller Hilfsmittel der Rhetorik wie die erfundene Rede der Protagonisten, die uns heute fremd geworden sind. In vieler Hinsicht steht er im Bann der großen antiken Geschichtsschreibung – und damit eines Menschenbildes, das von der Konstanz der Leidenschaften ausgeht und dem aufklärerischen Impetus widerstreitet. Aber wie subtil sind seine Charakterisierungen der Protagonisten, wie weit ist er entfernt von hohlen Lobreden auf seine Helden. Eine Ausnahme bildet nur Wilhelm von Oranien, den Schiller als ideale Verkörperung des Willens zur Freiheit ansieht. Eine Erkenntnisgrenze freilich kann und will Schiller nicht übersteigen. Er hasst aus ganzer Seele „den Pöbel“, die Unterschichten, die „vile multitude“. Nicht, dass es ihm an Verständnis für deren bedrängte Lage fehlen würde, sie gelten ihm als „viehisch durch viehische Behandlung“. Aber für ihn sind sie nur manipulierbare, gestalt- und seelenlose Masse.

Anlässlich des Bildersturms, der über die Niederlande fegte, spricht Schiller von einer Untat, „die alle Achtung für Religion überhaupt und alle Sittlichkeit mit Füßen trat und die nur in dem schlammigsten Schoß einer verworfenen Pöbelseele empfangen werden konnte“. Hier versagt alle Subtilität und Differenzierungskunst, es triumphiert das Entsetzen, das vier Jahre später, zur Zeit des Terrors in Frankreich, die meisten der hochgestimmten deutschen Intellektuellen ins Lager der Revolutionsfeinde überlaufen ließ.

CHRISTIAN SEMLER