piwik no script img

Archiv-Artikel

jazzkolumne Es geht um die Seele Amerikas

Mit New Orleans ist die Heimatstadt des Jazz untergegangen. Wynton Marsalis glaubt, sie werde wieder aufleben

Bis zu seinem zwölften Lebensjahr lebte Wynton Marsalis in einer schwarzen Community von New Orleans, und er berichtet, dass es in der Gegend damals drei schwarze und sieben weiße Football-Teams gab. Doch die schwarzen gewannen nie – sie durften zwar spielen, aber ja nicht gewinnen. „Wir wurden also immer gezielt benachteiligt“, resümiert Marsalis, und er erinnert sich noch gut daran, wie er seinem Vater sagte, dass er das so nicht akzeptieren wolle – doch der soll nur gelacht haben, sprach diesbezüglich sogar von Fortschritt. Schließlich wurden, als er jung war, schwarze Teams zum Wettkampf gar nicht erst zugelassen. Der Fortschritt bestehe halt darin, dass man jetzt dabei sei, aber auch dass die Diskriminierung sichtbar wird.

Wenn Wynton Marsalis dieser Tage über seine Heimatstadt spricht, liegen Trauer und Zorn in seiner Stimme. Rassismus sei das Hauptproblem, und die Klassenfrage müsse dringend gelöst werden, sagt er: „Ich habe als Kind erlebt, wie es ist, als ‚Nigger‘ beschimpft zu werden – dafür gibt es keine Löschtaste.“

Angesichts der Fernsehbilder aus New Orleans fühlt sich auch der afroamerikanische Jazzstar Herbie Hancock an eine Dritte-Welt-Stadt erinnert. Er verweist auf ein zentrales Problem, dass hier nun etwas weltweit sichtbar werde, was man zuvor zwar geahnt hatte, was aber en detail schwer zu belegen gewesen sei: „Die Armut ist so erschreckend, gerade auch die Umstände, unter denen die Menschen starben. Das Beschämende ist, dass die Regierung fünf Tage brauchte, um Hilfe zu organisieren. Weil die Bürokratie alles behinderte, starben die Menschen. Es gibt wohl auch Weiße, die arm sind, aber New Orleans zeigt, dass die am härtesten Betroffenen schwarz und arm sind. Amerika sieht gar nicht aus wie das Land der Freien, die Schwarzen sind offenbar dazu auserwählt, arm zu sein, und das ist jetzt weltweit im Fernsehen zu sehen – die Schwarzen sind die Opfer.“

Für Hancock war es ganz selbstverständlich, bei dem von Wynton Marsalis organisierten und landesweit übertragenen Benefizkonzert von Jazz At Lincoln Center am 17. September in New York mitzuwirken. Dank der Position als Leiter von Amerikas höchstdotierter Jazzinstitution und einer beispiellosen Karriere als Musiker, Pädagoge und Komponist gilt Marsalis mittlerweile als der einflussreichste Jazzmusiker der USA, seine Statements sind gefragt. „Please, please, please“, sagt er der französischen Zeitung Le Monde, na klar brauche New Orleans internationale Hilfe, Bush sei einfach nicht in tune mit dem spirit der Bevölkerung. Auch wenn Bush kurz darauf bemerkte, dass die sichtbar gewordene Armut ihre Wurzeln in einer „Geschichte der Rassendiskriminierung“ habe, „die ganze Generationen von den Entwicklungsmöglichkeiten Amerikas ausgeschlossen hat“, gibt Marsalis sich nicht zufrieden. Es gehe längst nicht nur um den Wiederaufbau seiner Heimatstadt, sondern um die Seele Amerikas. Schwarze Menschen flimmern wie Geister über die Fernsehbildschirme, und ihre Hilferufe und Fragen nach dem Verbleib der Väter, Mütter, Schwestern und Brüder würden die vielen ungelösten Probleme visualisieren, die seit der Sklaverei den amerikanischen Alltag prägten. In dem Moment, da die Fernsehkameras aus New Orleans abgezogen würden, drohe die Gleichgültigkeit des alten Systems, befürchtet Marsalis.

Für ihn ist New Orleans die Heimat des Jazz, und diese Musik sei so wichtig geworden, weil sie die einzige Kunstform sei, die die Prinzipien der amerikanischen Demokratie zum Ausdruck bringe. Hancock bezeichnet New Orleans als die Quelle der nichtklassischen westlichen Musik – Blues, Jazz, Gospel, Rock ’n’ Roll –, New Orleans sei das Herz der Musik, die alle liebten. Im Zeichen einer solchen Katastrophe könne Musik eine heilende Kraft sein und das Gefühl von Hoffnung und Mut transportieren.

Die New Orleanser seien Blues-Menschen, sagt Marsalis. Sie seien unverwüstlich, und deshalb ist er sich auch so sicher, das die Stadt weiterleben werde. Seine Familie sei zum Glück zwar unversehrt, berichtet Marsalis, doch ihre Häuser seien weitgehend zerstört. 2.000 professionelle Jazzmusiker hätten ihre Existenzgrundlage verloren, unersetzliche Dokumente des Jazz seien vernichtet worden. Gezielt spielt Marsalis die patriotische Karte, er wähnt sie sogar als Trumpf. Bei seinen öffentlichen Auftritten spricht er von einer Bewährungsprobe für das gute Amerika, man brauche die Gebete und Geldbeutel der Menschen und vor allem ihren Willen, der Welt zu zeigen, wozu der moderne Amerikaner in der Lage sei, „und dann werden wir New Orleans wieder aufbauen, und es wird sogar schöner als zuvor – und zwar ohne die Ignoranz des Rassismus, die beklagenswerten Bedingungen der Armut und den Mangel an Bildung und Ausbildung, eine Fäulnis, die sich seit der Sklaverei in vielen amerikanischen Großstädten ausgebreitet hat“. CHRISTIAN BROECKING