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Archiv-Artikel

israel rast ins verderben Ein normales Land

„Mit Höllentempo“ rast die israelische Gesellschaft in die Krise, wenn nicht ins Verderben. Das ist die provokante These von Michael Warschawski, die auch dem Buch den Titel gab. Der Autor, in Straßburg als Sohn eines Großrabbiners geboren, ging 1956 nach Israel, um seine Talmudstudien fortzusetzen. Dank seines orthodoxen Hintergrunds war er gegen die Verlockungen des Zionismus gefeit.

Schnell wurde ihm bewusst, was es bedeutete, wenn eine Besatzungsmacht ein Volk unterdrückt. Vor allem ein Erlebnis war dafür verantwortlich: Im Jahr 1967 musste er mit ansehen, wie israelische Soldaten einen Palästinenser grundlos demütigten. Seither ist er dezidierter Antizionist, was in Israel gern mit Staatsfeind gleichgesetzt wird. Warschawski verlangt eine „Entzionisierung“ Israels, weil sie erst die Voraussetzung für Frieden in der Region schaffe.

Dem Autor ist es schwer gefallen, diese kritische Bestandsaufnahme seines Landes zu schreiben, weil er weiß, wie seine Argumente von den Feinden Israels instrumentalisiert werden können. Warschawski beschreibt die Brutalität der Besatzungsmacht, die voll auf die israelische Gesellschaft zurückschlägt: Die demokratischen Grundrechte und Normen erodieren oder werden in Frage gestellt, die Brutalisierung der Gesellschaft nimmt erschreckende Ausmaße an, und die Menschen unterliegen einer perversen Gewöhnung an Tod und Gewalt.

Der Autor kritisiert heftig den Rassismus und die Verrohung der politisch-militärischen Klasse und eines Teils der Medien. Besonders seit Ariel Scharon und seine reaktionären Koalitionäre die Regierung übernommen haben, sei es zu einer Militarisierung der Kultur, der Universitäten und der Schulen gekommen.

Für Warschawski kehrt Israel durch den Bau der Mauer ins Ghetto zurück, aus dem das jüdische Volk über tausende von Jahren zu entkommen versuchte. Das Land drohe, in den Fundamentalismus abzudriften. Trotz all der Demütigungen, die von Palästinensern erlitten wurden, kämpft nur eine kleine Minderheit in Israel für deren Rechte und gegen „die Umwandlung Israels in einen von jedem demokratischen Anspruch befreiten fundamentalistischen Staat“.

Mit den so genannten linken Zionisten geht Warschawski hart ins Gericht, weil sie für bare Münze genommen hätten, dass Ehud Barak 2000 den Palästinensern ein „großzügiges Angebot“ für eine Friedensregelung gemacht habe. Dabei hätten sie wissen müssen, dass es nur eine Täuschung war. Israel sei von einer starken „antidemokratischen Strömung“ durch die politische Klasse bedroht; sie dürfe nicht unterschätzt werden, da sie schon heute „ein Viertel der Abgeordneten und fast die Hälfte der Minister der derzeitigen Regierung“ stelle. „All dies eingebettet in eine allgemein gewordene Paranoia, die die ganze Welt als existenzielle Bedrohung für die Existenz der Juden betrachtet.“ Hinzu komme noch die gefährliche „Samson-Option“ (Seymour Hersh, 1991): Israels Möglichkeit, sich atomar zur Wehr zu setzen, wenn es sich bedroht fühlt. Eine mehr als beunruhigende Botschaft.

Das Buch ist überaus spannend, ja aufregend, weil es realistisch ist. Es hat nichts von der Israelromantik, die in Deutschland und den USA in der politischen Klasse und bei den Lobbyisten verbreitet ist. Warschawski wünscht sich für Israel eine Normalität innerhalb der Staatengemeinschaft, die viele diesem Land absprechen, um seinen Sonderstatus zu erhalten. Dies widerspricht der ursprünglichen Zielsetzung des Zionismus – und ist antisemitisch. Warschawski tritt solchen Bestrebungen entgegen, als Aufklärer im besten Sinne. Es ist zu wünschen, dass das Buch nicht tabuisiert, sondern breit und offen diskutiert wird. LUDWIG WATZAL

Michael Warschawski: „Mit Höllentempo. Die Krise der israelischen Gesellschaft“.Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, 125 Seiten, Nautilus Verlag,Hamburg 2004, 10,90 Euro