im intercity berlin–breslau : Eine Senatsdelegation und die Entdeckung der Langsamkeit
Wenn alles schrumpft, die Wirtschaft, das Einkommen, ja selbst die Hoffnung, dann ist jedes Wachstum ein Segen. Vor allem wenn es sich um ein solch orbitantes handelt, wie es die Bahn AG mitunter einfährt. Fünf Stunden und 40 Minuten braucht der Intercity Wawel normalerweise von Berlin-Ostbahnhof bis Wrocław Główny. Am vergangenen Donnerstag war es eine Stunde mehr – Notarzteinsatz in Berlin und Warten auf den Gegenzug in Cottbus. Das macht einen Zuwachs von 17,6 Prozent.
Nun wäre dies nicht der Rede wert, hätte im genannten Zug nur der Autor gesessen. Mit ihm unterwegs war aber jene Delegation von Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD), die zur Vorbereitung einer Ausstellung zu 160 Jahren Eisenbahn Berlin–Breslau in die niederschlesische Hauptstadt reisen wollte. So kam es, dass auch Hauptstadtplaner Hilmar von Lojewski, Öffentlichkeitsarbeiter Joachim Günther, Polenexperte Michael Stoll und der Senatorin Außenministerin Cornelia Poczka Gelegenheit hatten, Bahnchef Mehdorn zu segnen. Erst recht, als das Hinfahrt- vom Rückfahrtergebnis noch übertroffen wurde. Wegen eines Lokschadens schaffte die Bahn diesmal 7 Stunden und 10 Minuten. 26,5 Prozent Wachstum, hoch die Gläser!
Nun soll man mit Zahlen nicht spielen ohne den heiligen Ernst. Soll nicht ausrechnen, wie weit man in 7 Stunden 10 Minuten nach Westen gekommen wäre oder nach Süden. Paris? Basel? Mailand? Soll nicht die Polen aus der Verantwortung entlassen, die die Trasse Berlin–Breslau ebenso stiefmütterlich behandeln wie der Kanzler und sein Bahnfreund. In den Osten aufzubrechen ist eben noch immer eine Reise in eine andere Zeit.
Wäre da nur nicht die lästige Vergangenheit. „Wie lange fuhr der Fliegende Breslauer in den 30er-Jahren?“, kam auf der Rückfahrt die Frage auf. „2 Stunden, 44 Minuten von Breslau Hauptbahnhof bis Schlesischer Bahnhof“, lautete Stolls Antwort wie aus der Pistole geschossen. Auf dem Taschenrechner des Autors blinkte die Zahl: 110,78431 Prozent. Die Bahn bricht alle Rekorde, sogar ihre eigenen.
Zurück in Berlin überkam den Autor die Wehmut. Breslau war weit weg, fast unerreichbar, ein Sehnsuchtsort. Sollten Mehdorn und die polnische PKP wirklich einmal Ernst machen und eine Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen beiden Städten bauen, wäre es vorbei mit der Entdeckung der Langsamkeit. Selbst vor deutschen Heuschrecken wäre Breslau nicht mehr sicher. Vielleicht sollte man der Ausstellung im nächsten Jahr den Titel geben: „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder Fliegender Breslauer“. UWE RADA