harald fricke über Märkte : Kaufen gegen den Ladenschluss
Was sollen Gewerkschaftler denn tun, am Sonntag, in Berlin, wenn es regnet und die Demo ist vorbei?
Null Grad, grauer Himmel, Nieselregen: Sonntag war kein schöner Morgen in Berlin. Das werden sich auch die vielen Schwaben, Rheinländer und Sachsen gedacht haben, als die Kundgebung am Breitscheidplatz vorbei war. Da kommt man mit 20.000 Menschen in die Hauptstadt, trillert auf Pfeifen gegen die geplante Aufhebung des Ladenschlussgesetzes, klatscht eifrig, wenn Frank Bsirske davon spricht, dass die Neuregelung keine Arbeitsplätze schafft, sondern nur zu „Politikverdrossenheit“ führt – und dann ist die Demonstration auch schon wieder zu Ende.
Was nun? Es ist noch nicht mal Mittag, man hat noch drei Stunden Zeit, bis der Bus zurück nach Essen oder Weimar fährt. Also geht man einkaufen, mit Kind und Kegel, schließlich ist verkaufsoffener Sonntag in den Innenstadtbereichen von Berlin, weil die Geschäfte eine Sonderregelung haben wegen der ebenfalls stattfindenden Internationalen Tourismus Börse. Ein lustiges Bild, vollkommen absurd: Eltern haben ihre pudelbemützten Kinder geschultert, die Kleinen sind mit Ver.di-Luftballons und roten Gewerkschaftswimpeln ausgerüstet, auf denen dem drohenden Wegfall des Familienwochenendes der Kampf angesagt wird. Jetzt stehen sie alle zusammen mit Körben voll CDs und Büchern an den Kassen bei Saturn oder der Wohlthat’schen Buchhandlung Schlange.
Die Forderung nach dem Recht auf Freizeit geht ihnen dabei immer noch leicht über die Lippen: Der verkaufsoffene Sonntag ist ein Skandal, eine Verbeugung vor dem Kapital. Die SPD hat die Arbeiter verraten, vor sieben Jahren war sie noch gegen das damals von der CDU-Regierung angeschobene Vorhaben, nun ist sie vor den Unternehmern eingeknickt – „aber nicht mit uns!“. Das erzählen die Mütter und Väter den Fernsehteams, während sie die eben erst gekauften Schuhkartons in ihre Rucksäcke stecken. In der „Abendschau“ sehen die Bilder zwangsläufig lächerlich aus: Willkommen in der Ironie zwischen kollektivem Arbeitskampf und individuellem Konsumentenglück. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!
Verwunderlich ist an diesem Verhalten nichts. Man setzt sich ein, man nimmt was mit, so verbinden sich Ernst und Spaß schon immer auf Demonstrationen, so soll es auch sein. Ich kann mich noch gut an meinen ersten Schülerprotest erinnern, 1977 ging es in Kiel gegen die Veränderungen im Hochschulgesetz und eine Kürzung des Bafög. Wir waren mit einem von unserer Schülervertretung gecharterten Bus sehr früh am Morgen losgefahren, früher noch als gewöhnlich der Unterricht begann. Für mich war das ein echtes und aufrichtiges Opfer für die Sache, über deren genauen Sinn ich mir bei der Abschlusskundgebung in Kiel noch etwas mehr Aufklärung von den vielen Rednern erhoffte. Doch außer den Slogans, die wir selbst schon Stunden zuvor im Bus eingeübt hatten, verstand ich so gut wie nichts von den komplizierten Verstrickungen, mit denen da die Schulpolitik des Ministerpräsidenten Stoltenberg, der Radikalenerlass und die staatlichen Repressalien gegen RAF und deren Sympathisanten zusammen gedacht wurden. Klang aber schon toll, das Ganze, ein Hauch von Revolution lag in der Frühlingsluft.
Als die Demo sich danach auflöste, wusste keiner von uns 13-jährigen Quartanern etwas mit dem Tag anzufangen. Die Jahrgänge aus der Oberstufe diskutierten die weitere Strategie für die kommende Treffen des Landesschülerparlaments, die Leute vom SDAJ kramten ihre Broschüren zusammen und bauten den Infotisch ab. Verloren standen wir rum, ein wenig abseits. Ein Bekannter hatte sich Tabak gekauft, also übten wir eifrig Zigarettendrehen, bis der Bus zum Rückweg startete. Danach war ich „Drum“-Raucher und „politisiert“, wie man früher sagte. Dass der Spass am Ernst bis zum Abitur hielt, dass ich selber ein Jahr später in der Landesschülervertretung saß und Mitglied beim SDAJ war, geht sicher auf das Konto unseres kleinen Ausflugs. Obwohl mir die Hintergünde für unser Engagement zunächst völlig schleierhaft blieben – als Teenager will man keine bessere, sondern gar keine Schule –, war doch klar, dass es gut tat, zur Bewegung zu gehören. Ohne den unbedingten Willen zum Protest hätte ich vermutlich schon nach der zehnten Klasse den Abgang gemacht.
Insofern mag auch das enthemmte Shopping am letzten Sonntag zwar als peinliches Zeichen von Egoismus, einer inkonsequenten Haltung gar gewertet werden. Aber im Kern ändert es nichts an der berechtigten Kritik, dass eine weitere Liberalisierung der Märkte nur einer technokratischen Idee von Dienstleistung entspricht, die in der Praxis vielen Leuten das Wochenende versaut. Vielleicht ist der Run auf die Geschäfte nach Abschluss der Demo auch eine spontane Bestätigung für die Notwendigkeit zur Mäßigung, ein Plädoyer an die Vernunft gewesen: Schaut her, selbst wir, die wir gegen den unbeschränkten Ladenschluss sind, können nicht anders als kaufen, wenn das Angebot erst einmal existiert. Deshalb muss der Staat uns bei der Mäßigung helfen. Denn irren ist nicht nur menschlich, sondern manchmal auch am schönsten. Erst recht sonntags, da ist ja sonst nichts los.
Fragen zum Demonstrieren?kolumne@taz.de