harald fricke über Märkte : Lächeln, solange der Vorrat reicht
Für Schönheit wird immer mehr Geld ausgegeben, für Gesundheit reicht es offenbar künftig nicht mehr
Beim Zahnarzt gewesen. Geweint. Wohl auch wegen der schönen Musik. Im Wartezimmer lief Marvin Gayes „What’s Going On“, mit all den wunderbaren Anrufungen der „brothers“ und „sisters“; dazu die Erkenntnis „war is not the answer“ und der Wunsch, lieber miteinander zu reden, statt sich gegenseitig mit brutaler Gewalt zu bestrafen. So viel grundguter Liebeswille nimmt mich immer wieder mit.
Überhaupt war Marvin Gaye ein schöner Mann, und er hatte auch schöne Zähne. Die konnte man sehen, wenn er bei TV-Auftritten sang, wenn er stets etwas abwesend und von den eigenen Harmonien entrückt in sich hineinlächelte. Mit seiner Art, über das ganze Gesicht zu strahlen, konnte Gaye jede Schlechtigkeit der Welt in sein Herz schließen, bis die Unbilden des Alltags dort einfach verpufften. Das mag ein wenig sentimental klingen, vielleicht auch nach Verklärung und Kitsch. Aber ohne die Freuden der Gegenwart, dem für Momente jedenfalls uneingeschränkten Ja zum Hier und Jetzt, braucht man sich auch keine Gedanken zu machen, wie es weitergehen soll. Die Zukunft beginnt in solchen Augenblicken, da man die Begeisterung eines anderen meint teilen zu können; dieses Recht auf Zuversicht macht die tristen Anmutungen der Realität überhaupt erträglich.
Was aber, wenn Gaye nicht gelächelt hätte? Wenn er mit verkniffenen Lippen seine Songs vorgebracht hätte – immer aus Scham darüber, seine verrotteten Zahnstümpfe und Lücken im Gebiss zeigen zu müssen? Offenbar wissen Frau Schmidt und Herr Seehofer nichts von der hellen Freude, die ein schönes Lächeln auslösen kann. In ihrem Entwurf zur Gesundheitsreform sollen neue Zähne, Kronen, Brücken aus der gesetzlichen Krankenkasse herausfallen. Wer sein Gebiss trotzdem braucht, soll es künftig extra versichern, das kostet schätzungsweise 7,50 Euro pro Person im Monat.
So wird eine der schönsten Nebensachen zum teuer erkauften Gut. Am Lächeln von Marvin Gaye kann die tückische Übereinkunft zwischen SPD und CSU zwecks Sanierung der Kasse zwar nichts mehr ändern. Er ist bereits seit 1984 tot, von seinem Vater im Streit erschossen worden, das perlige Weiß in seinem Mund strahlt nur noch als Erinnerung. Die hübschen Gesichter aus Fernsehwerbung, Talkshows und „Deutschland sucht den Superstar“ dagegen müssen sich die Zähne im Notfall für viel Geld ersetzen lassen, schließlich gehören appetitliche Beißerchen dort zum Business.
Aber die Welt besteht nicht bloß aus Fernsehsternchen. Zwei Zahnreihen hat ja meist ein jeder. Muss man nicht darum bangen, dass nun das Grinsen und die gute Laune auch noch vollends aus dem Alltagsbild verschwinden? Schlimm ist die Vorstellung, wenn sich in der U-Bahn oder im Bus zur Arbeit nur mehr brummige Menschen gegenübersitzen, die den Mund nicht aufkriegen – weil niemand dem anderen zeigen will, wie schlimm es innen drin bei ihm ausschaut.
Was mich an dieser Aussicht auf eine weniger strahlende Zukunft am meisten erschüttert, ist nicht der Verlust solch kleiner anonymer Streicheleinheiten, die jedes sorglose Lächeln mit sich bringt. Es ist die perfide Nutzbarmachung der Angst ums Äußere und die, schlimmer noch, staatliche Ausbeutung des letzten Funkens unkapitalisierter guter Laune. Gleichwohl erscheint es mir paradox, dass in einer Gesellschaft, die mit Botox, Sonnenstudios und Wellness-Kursen so sehr um eine angenehme individuelle Erscheinung bemüht ist, ausgerechnet an den Basics, die alle betreffen, per politischem Entscheid gespart wird.
Oder eben nicht. Dann wäre der Plan von Schmidt und Seehofer jener kalten Logik der Verhältnisse geschuldet. Wo so viel Geld für die perfekte Schönheit ausgegeben wird, da kann auch die Verteuerung bei der Zahnbehandlung nicht schaden. Dass nebenher die Gesundheit ganz allgemein mit Treuepunkten und Bonifikationen für zipperleinfreie Körper den Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage unterworfen wird, scheint ohnehin nicht weiter zu stören, das wird einfach unter steigenden Lebenshaltungskosten verbucht. Aber einen Verstoß gegen das Recht auf Unversehrtheit stellt ein fauliges Maul offensichtlich nicht dar.
Dagegen würde es mich nicht wundern, wenn statt weiß leuchtender TV-Ärzte-Darsteller, die zum Beweis der Qualität irgendwelcher Zahnpflegeprodukte mit biegbaren Bürsten auf Tomaten einhacken, demnächst ein Stefan Raab mit seinem betonstarren Prachtgebiss die Vorzüge von günstigen Prothesen verkündet. Noch gibt es Lächeln auf Krankenschein. Eins hat mir mein Zahnarzt mit auf den Weg gegeben: solange der Vorrat reicht.
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