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Archiv-Artikel

gottschalk sagt Wenn ich hundert werde

Wo lebt der älteste Mann Deutschlands? In Nordrhein-Westfalen natürlich, in Witten, er heißt Robert Meier und wurde gestern 109. Herzlichen Glückwunsch. Dass die Presse den Herrn als „gelassen“ beschreibt, wundert mich kaum. Worüber hat man sich nicht alles aufgeregt in all der Zeit (Frauen in Hosen, Frauen ohne Hosen), wie viele Prognosen stellten sich in den letzten 109 Jahren als Unfug heraus. Nicht nur die großen, wie „Wir werden siegen“ (1914) oder „Diesen Krieg gewinnen wir jetzt aber echt“ (1939). Auch die kleinen. Die Binsenweisheit „Später ist man immer schlauer“ stimmt nämlich.

Und niemand, der gerne Meinungen vertritt, ist dagegen gefeit. Vielleicht hätte ich ja seinerzeit in meiner „Heiteren Columne für das Rheinland und das Königreich Preußen“ Wilhelm zwo begeistert zugestimmt, der sagte: „Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“ Oder 1927 Harry M. Warner: „Wer zum Teufel will denn Schauspieler sprechen hören?“. Ich müsste mal den Artikel suchen, in dem ich in den Neunzigern das Internet als unbrauchbar beschreibe. Seinerzeit wartete man eine dreiviertel Stunde und sah ein unscharfes Bild vom Wetter in Seattle.

Als Robert Meier in Rente ging, war ich noch nicht geboren und kann dennoch eine Reihe ganz persönlicher falscher Voraussagen auflisten: „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ (Köln, 1986), „Ich glaube nicht, dass Kohl die Wahl gewinnt“ (1983, 1987, 1990, 1994) oder: „Es reicht, wenn wir in Deutschland tanken“ (Belgien, 1988). Meine spektakulärste Prognose war in Wirklichkeit leider als billiger Witz gemeint: „Nächstes Jahr feiern wir alle bei uns“ (Thüringen, Silvester 88/89).

Vom Waldsterben redet niemand mehr, der VW-Konzern versucht Arbeiter zur 35-Stunden-Woche zu überreden, Helge Schneider spielt im Kino Adolf Hitler, Lexus schafft es, ein Hybridauto zu bauen, das immer noch 12 Liter Sprit verbraucht. Wer hätte das vor Jahren gedacht?

2064, wenn ich hundert werde, ist die Rente vielleicht wieder eingeführt worden und das Ozonloch gestopft. Der Bürgermeister bringt mir Blumen. Und wenn er mich fragt, warum ich beim Fernsehen immer meinen Hörchip abstelle, werde ich antworten: „Wer zum Teufel will denn Schauspieler sprechen hören?“ CHRISTIAN GOTTSCHALK

Fotohinweis: CHRISTIAN GOTTSCHALK lebt in Köln und sagt die Wahrheit - alle zwei Wochen in der taz