götter, scherben etc. : Kulturen, des Sieges müde
Im Berliner Pergamonmuseum spürt man die Vibrationen der S-Bahn, es fühlt sich an, als würden die Russen kommen. Im Museumsshop ein Anfall von Buch- und Wissensgier. Das hatten wir in der DDR alles nicht: bunte Altertums-Einführungen für Kinder, Architekturspiele, Rom-Bastelsets. Dann die Sonderausstellung zu Herculaneum, durch ihren Untergang weltberühmt gewordene Stadt. Die Schemen der am thermischen Schock gestorbenen Menschen. Freud habe, weiß meine Begleiterin, auf sein Schreiben an den Autor eines Pompeji-Buchs hin, dass dieser, Freuds Analyse seines Textes zufolge, Sex mit seiner Schwester wolle, keine Antwort bekommen. Wir schreiten durchs Ishtar-Tor, bekannt aus Oliver Stones „Alexander“-Film, im Irak steht eine Kopie. Woher sie wisse, dass es nicht „Ischias-Tor“ heiße? Weil „Ishtar-Gate“ ein Song einer Black-Metal-Band sei.
Wir sitzen auf den Treppen von Pergamon und betrachten den Kampf der Götter und der Giganten. Ob ich jemals „Die Ästhetik des Widerstands“ lesen werde? Die ersten 30 Seiten ließen ahnen, dass mich der Rest noch Jahre kosten würde. Ist es weniger traurig, zu sterben, wenn man alles gelesen hat? Beckett fand den Fries scheußlich, allein traut man sich solche Urteile ja nicht. Von manchen Giganten ist nur eine Kniescheibe geblieben. Ob es für einen Doktortitel reicht, so ein Stück richtig zuzuordnen? Die Utopie der Kultur: dass sich in Zukunft jemand mit unseren Scherben befasst. Seit Gott tot ist, der einzige Trost.
Man hört, der Fries sei Propaganda, die neue Macht habe ihren Sieg mythologisch verankern wollen und sich in den griechischen Göttern stilisiert, gegen das Elementare, die Götter der besiegten Barbaren. Ist so eine Botschaft je geschluckt worden? Warum hat der Kommunismus die westliche Popkultur verbannt, statt nach dem gleichen Prinzip den Sieg der eigenen Superhelden zu bebildern? Hase und Wolf verspeisen Tom und Jerry. Die Abrafaxe schänden Pipi Langstrumpf.
Museumsmüde starren wir auf das Bild, das die Sieger von sich haben wollten. Wie einsam Siege machen. Wird nicht jeder Sieger irgendwann müde? Wie Rocky, der satt gewordene Champ, der von einem Streetfighter herausgefordert wird. Immer kommt so ein Heißsporn, in dem sich der Champ als junger Mann wiedererkennt. Gibt es auch ihrer Siege müde Kulturen?
JOCHEN SCHMIDT