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Archiv-Artikel

gewöhnlich ist der whiskey daran schuld von RALF SOTSCHECK

Es muss Sommer sein. Die Orte entlang der irischen Westküste sind brechend voll, die Gehwege voll brechender Menschen. Es ist Festivalzeit. Ab Mitte Juni geht es los, die Orte wechseln jede Woche, die Musik und die Rituale nicht. Ob es das jährliche Fest zum Gedenken an einen berühmten Dudelsackspieler, das Treffen der Nachwuchsschriftsteller oder das Verkupplungsfestival von Lisdoonvarna ist – es muss soviel getrunken werden, wie der Körper fasst.

Damit auch ordentlich etwas hineingeht, ist die Sperrstunde zur Festivalszeit aufgehoben, schließlich müssen die Kneipiers von etwas leben. So mancher Wirt macht in der Festivalwoche mehr Umsatz als im Rest des Jahres zusammen, und das ist auch nötig. Das Örtchen Listowel in der südwestirischen Grafschaft Kerry zum Beispiel weist bei knapp 3.000 Einwohnern 52 Pubs auf. Solche Mengen können die Einheimischen alleine gar nicht trinken, um so viele Gastwirte zu ernähren.

Vorvergangene Woche war Milltown Malbay in der Grafschaft Clare an der Reihe. Wie immer setzte sich am Freitag eine katholische Karawane aus Nordirland in Richtung Milltown Malbay in Bewegung, denn der 12. Juli ist in Nordirland protestantischer Nationalfeiertag, und da flüchten die Andersgläubigen lieber aus der Krisenprovinz. Mein Freund Gerry aus Belfast hatte wie jedes Jahr sein Banjo eingepackt und war an die Westküste gefahren. Ich traf ihn gleich am ersten Tag in vier verschiedenen Pubs. Er war jedesmal überrascht und lallte: „Mensch, Ralf, was machst du denn hier?“

Dabei war er zumindest körperlich noch in halbwegs passablem Zustand. Tony aus Derry, der zweitgrößten nordirischen Stadt, ging es schlechter. Er hatte schon zwei Festivals hinter sich, denn seit er pensioniert ist, zieht er zwei Monate lang von Fest zu Fest – acht Wochen ohne Sperrstunde! Eigentlich konnte er gar nicht mehr stehen, aber da die kleine Kneipe auf der Hauptstraße von Milltown Malbay hoffnungslos überfüllt war, konnte er auch nicht umfallen.

Doch dann begann er zu singen, was er in nüchternem Zustand niemals wagen würde. Im Nu leerte sich der Pub merklich, so dass Tony, seiner Stütze beraubt, sich wie ein Kreisel – nur langsamer – drehte und dann zu Boden sank. Sein Bierglas hatte er dabei festgehalten und es so geschickt balanciert, dass nichts verschüttet wurde.

Tony folgt dabei offenbar einer alten Tradition. Hermann von Pückler-Muskau, der Reiseschriftsteller und Erfinder der gleichnamigen Eiscreme, bemerkte 1828, die Iren seien „stets guter Dinge und zeigten zuweilen auf offener Straße Anwandlungen von Lustigkeit, die an Verrücktheit grenzte. Gewöhnlich ist der Whiskey daran schuld; so sah ich einen halbnackten Jüngling den Nationaltanz mit der größten Anstrengung auf dem Markte so lange tanzen, bis er gänzlich erschöpft, gleich einem muhammedanischen Derwisch, unter des Volkes Jubel bewusstlos hinfiel.“ Diejenigen, die in der kleinen Kneipe in Milltown Malbay geblieben waren, jubelten auch, denn sie wussten, dass für heute Schluss mit Tonys Gesang war.