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Archiv-Artikel

generation klapprad – ein elendsbericht von HARTMUT EL KURDI

Dies ist eine wacker gegen den literarisch-kommerziellen Zeitgeist gerichtete Erinnerungskolumne. Denn wenn ich den Literaturbetrieb richtig beobachtet habe, interessiert sich zurzeit niemand für meine Kindheitserlebnisse, weil ich weder ein Zonenkind bin, noch zur Generation Golf gehöre. Eigentlich gehöre ich zur Generation Klapprad. Und das kam so: An meinem siebten Geburtstag, im Jahre 1971, wedelte ein gewisser Walther Brüssler, den ich an anderer Stelle einmal treffend einen „kurzzeitigen, einbeinigen Lebensgefährten meiner Mutter“ genannt habe, mit einem Zettel – einem Bestellzettel, wie sich herausstellen sollte – vor meiner Nase und fragte: „Rate mal, was das ist?“

Ich zuckte mit den Schultern. Walther Brüssler, der sich gern geistigen Getränken ergab, gönnerte angezwitschert: „Na, was wünscht du dir denn zum Geburtstag?“ Ich überlegte. Ich hatte gelernt, meine Wünsche in irre Träume und realistische Forderungen zu unterteilen. Ich träumte zum Beispiel von einem Rauhhaardackel, einer E-Gitarre oder einem echten Gokart. Aber darüber sprach ich weder mit meiner Mutter noch mit Walther Brüssler. Hier forderte ich nur das Lebensnotwendige: ein Fußballbildchensammelalbum, einen Spielzeugrevolver oder einen Tischtennisschläger.

„Ich hab dir ’n Bonanza-Rad bestellt!“, platzte es stolz aus dem Einbeinigen heraus. „Wird allerdings erst nächste Woche geliefert!“ Ich war sprachlos, fast schockiert. Ein Bonanza-Rad gehörte eindeutig in die Kategorie „Träume“, die man nicht aussprach, um sich nicht den Vorwurf der Unbescheidenheit einzuhandeln. Es dauerte einen Moment, bis ich mich gefangen hatte. Gerade als ich beginnen wollte, mich zu freuen, wurde mir klar, dass es sich hierbei nur um einen unwürdigen Bestechungsversuch handelte. Ich konnte Brüssler nämlich nicht leiden. Und da hatte er sich wohl gedacht: So, jetzt wird das widerborstige Kind mit einem teuren Bonanza-Rad beschämt. Aber nicht nur das widerte mich an. Auch mein Gewissen regte sich. Wie die guten Kinder im Märchen dachte ich sofort an mein Mütterlein. Klar war, dass sie das Ding bezahlen musste – Käpt’n Ahab trug ja sein ganzes Geld in die „Kellerschenke“, das hatte ich inzwischen mitbekommen.

Ich sagte also, unglaublich, aber wahr: „Nein, das muss doch nicht sein, mir reicht doch auch ein Klapprad.“ Im gleichen Moment wurde mir übel ob meiner Worte. Mein Gewissen war die eine Sache, ein Bonanza-Rad in greifbarer Nähe die andere. Aber ich versuchte mich zu beruhigen: Das Ding war ja schon bestellt – ich würde wohl mit meinem schlechten Gewissen leben müssen. Aber Walther Brüssler schaute mich überrascht an und sagte: „Ach so, da muss ich noch mal fragen.“ Er ging zum Telefon, und nach wenigen Minuten hinkte er zurück und strahlte: „Kein Problem, du kannst ’n Klapprad haben, das können wir sogar schon heute Nachmittag abholen.“

Und so bekam ich aus Stolz und Bescheidenheit kein Bonanza-Rad. Und jetzt mal ehrlich: Schlimmeres kann man als Kind in der DDR auch nicht erlebt haben.