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Archiv-Artikel

eu-beitritt Türkischer Realismus

Vor ein paar Jahren gehörte es noch zum Standardrepertoire türkischer Politiker, den Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union innerhalb weniger Jahre anzukündigen. Noch als im Dezember 1999 ein EU-Gipfel die Türkei erstmals zum Beitrittskandidaten kürte, verstieg sich der damalige Premier Ecevit zu der Ankündigung, schon 2004 könne man zum Club gehören.

KOMMENTARVON JÜRGEN GOTTSCHLICH

Solcher Populismus hat der Sache sehr geschadet und gehört glücklicherweise der Vergangenheit an. Neben den offensichtlichen Zwiespältigkeiten innerhalb der EU haben aber auch die falschen Ankündigungen dazu beigetragen, dass heute der größte Teil der türkischen Bevölkerung zwar nach wie vor einen Beitritt sehr befürwortet – tatsächlich aber glaubt, dass die EU das Land nie akzeptieren wird, welche Reformen auch immer umgesetzt werden.

Die neue Regierung hütet sich daher jetzt, öffentlich darüber zu spekulieren, zu welchem Zeitpunkt die Türkei tatsächlich Vollmitglied sein könnte. Für die Geschwindigkeit machte Ministerpräsident Erdogan vor der Presse im Beisein von Bundeskanzler Schröder auch das Reformtempo innerhalb der Türkei dafür mitverantwortlich. Bei internen Gesprächen fällt oft das Jahr 2012 als frühestmöglicher Termin, eine etwas pessimistischere Variante geht von 2015 aus. Wenn dann noch die Übergangsfristen für Freizügigkeit und andere Sonderregelungen berücksichtigt werden, heißt es im Umfeld der Regierung, ist mit dem in Deutschland befürchteten Ansturm aus Anatolien frühestens 2020 zu rechnen. Der aber bliebe aus. Denn auf Grund des wirtschaftlichen Aufschwungs ist die Türkei dann nicht mehr ein Auswanderungs-, sondern längst ein Einwanderungsland.

In ihrem neuen Realismus beschäftigt sich die politische Klasse allerdings weniger mit Spekulationen über den Beitritt selbst als mit dem Weg dorthin. Aus türkischer Sicht ist entscheidend, dass Ende dieses Jahres der Beginn von Verhandlungen beschlossen wird. Damit würde die EU endlich die Frage bejahen, ob die Türkei prinzipiell dazugehören kann oder nicht. Allein damit entstünde eine ganz neue Situation. Das Land hätte ein erreichbares Ziel, es würde für ausländische Investoren kalkulierbar und könnte deshalb sein ökonomisches Potenzial bereits lange vor einer Vollmitgliedschaft ganz anders entfalten als jetzt. Wie lange es dann wirklich noch dauert, ist demgegenüber zweitrangig. Hauptsache, der Weg ist klar.

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