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Archiv-Artikel

eisbrecher und dauertürking von HARTMUT EL KURDI

Irgendwann Anfang der Neunzigerjahre übergab ich mich einmal mit einiger Verve auf eine niedersächsische Kleinkunstbühne. Ich hatte am Nachmittag in einem Straßencafé einen Eisbecher zu mir genommen, der mir aufgrund seines ranzig-muffigen Abgangs schon während des Essens nicht ganz koscher vorgekommen war. Aber da ich noch zur „Es wird gegessen, was auffen Tisch kommt“-Generation gehöre, hatte ich mich weder beschwert noch gewagt, die faule Gefrierspeise einfach stehen zu lassen. Am Abend sollte ich für diese servilen Tischmanieren angemessen bestraft werden.

Keine ganze Minute hatten meine beiden Kollegen und ich den anwesenden Teil der Menschheit mit unserem rasend komischen Avantgarde-Speed-Kabarett (so unsere bescheidene Selbstdefinition) unterhalten, da versagte meine eiserne Theater-Disziplin – und ich kübelte so schwungvoll und energisch auf die Bühne, dass ich mir dabei eine Zerrung im Schulterbereich zuzog. Die Vorstellung wurde abgebrochen, ich aber brach weiter. Ungefähr fünfzehnmal in den nächsten 60 Minuten. Als ich auch noch anfing, angeberisch zu hyperventilieren, fuhr mich Herr Günther in die Städtische Klinik Hildesheim, wo man eine Lebensmittelvergiftung diagnostizierte und mich an den Tropf hängte. So weit, so normal – das Leben ist eben eine Kette von Peinlichkeiten und Kleintragödien. Dann aber wurde es richtig fies.

Statt mich zu heilen und schnell zu entlassen, hielt man mich tagelang gefangen und folterte mich mit orientalischer Musik. Zwar bin ich selbst Halbmorgenländer, musikalisch wurde ich jedoch rundum westlich sozialisiert. Anders mein Bettnachbar Hakan, ein deutschtürkischer Pubertant, dem seine 34-köpfige Großfamilie beim ersten ihrer unzähligen Besuche einen Weltempfänger mitbrachte, der fortan gleichmäßig – nur von Hakans Nachtruhe unterbrochen – vor sich hin dudelte.

Manchmal bin ich so schockiert von der Ungezogenheit meiner Umwelt, dass ich in eine Art ungläubige Starre verfalle und nichts dagegen unternehmen kann. Einen kompletten Tag lang lag ich also auf meinem Bett, schüttelte hin und wieder fassungslos den Kopf und wehrte mich nicht gegen die Lärmbelästigung. Am zweiten Tag bat ich Hakan, das Radio ein bisschen leiser zu stellen, was er auch prompt tat. Ich stellte fest, die Lautstärke war nicht das Problem. Am dritten Tag verlangte ich erfolgreich Dudelpausen. Ging ich jedoch auch nur für eine Minute ins Badezimmer, wurde die Kiste wieder angeworfen, was bedeutete, dass ich erneut einen nörgeligen Antrag auf Stille stellen musste. Am vierten Tag konnte ich nicht mehr und explodierte. „Hömma“, sagte ich, „lass dir doch einfach beim nächsten Mal von deiner Familie einen Kopfhörer mitbringen, okay?“ – „Was?“ Radio Ankara dröhnte durchs Zimmer. „KOPFHÖRER!!!“, brüllte ich. „Ach so“, antwortete Hakan, lächelte und zog einen fetten „Sennheiser“-KOPFHÖRER aus seinem Nachtschränkchen. Am nächsten Tag ließ ich mich auf eigenes Risiko entlassen und mied bis Mitte 2001 jeden Eisbecher.