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Archiv-Artikel

ein arabisches tv-tagebuch Der Schriftsteller Sélim Nassib über den Irakkrieg aus der Perspektive von al-Dschasira

Das Gesetz des Dschungels

Vom Dach der Universität von Mossul aus wirken die Plünderungsszenen ganz friedlich. Dutzende von Autos und Transportern werden mit Beutegut beladen, als handele es sich um einen normalen Umzug. Fußgänger gehen vorbei, gebückt unter der Last von Kühlschränken, Fotokopierern, Stoffballen, Möbeln und medizinischem Gerät. Den neu in der Stadt eingetroffenen Al-Dschasira-Korrespondeten umringen Professoren der Universität, die einander das Mikrofon aus der Hand reißen: „Sie sind dabei, die Universität zu plündern! Und die Krankenhäuser, die Behörden und die Betriebe! Die Amerikaner müssen die Milizen und Diebe, die sie hereingelassen haben, sofort aus der Stadt vertreiben!“

Eine Frau schaltet sich ein: „Ist das die Befreiung, die sie uns versprochen haben? Sie spalten das irakische Volk in Kurden, Araber, Schiiten, Sunniten und Turkmenen! So wird es keinen Frieden geben, keine Chance!“

Der Korrepondent riskiert eine Frage: „Wer aber hat die Macht in der Stadt?“ Mehrere Stimmen antworten ihm: „Hier regieren die Waffen! Jeder, der ein Gewehr hat! Wir appellieren an Bush und Blair, aber auch an die kurdischen Führer Talabani und Barzani: Passt auf! Das Chaos wird sich gegen diejenigen wenden, die es zugelassen haben. Das ist euer Volk in Mossul, das Opfer eines barbarischen Angriffs ist.“

Der Korrepondent von al-Dschsira in Bagdad gibt bekannt, dass Händler das Feuer auf die Plünderer eröffnen. Die Wasserversorgung ist kurz vor dem Kollaps und die Vereinten Nationen sorgen sich um die humanitäre Lage, vor allem in den fast komplett geplünderten Krankenhäusern. Offensichtlich haben die Streitkräfte, die in das Land eingefallen sind, weder die Mittel, um Ordnung und Gesetz durchzusetzen, noch den Grundbedürfnissen der Bevölkerung zu entsprechen.

Anstelle von Demokratie scheint das Gesetz des Dschungels zu herrschen. Amerikaner und Briten sind gezwungen, sich auf die einzig intakten Strukturen zu stützen – den schiitischen Klerus im Süden, die kurdischen Peschmergas im Norden. Aber diese „Ethnisierung“ ist voller Gefahren. Angesichts von Hass und Misstrauen zwischen den Gemeinschaften, der Menge an Waffen, die im Umlauf sind, und des Wunsches nach Rache an den unzähligen Agenten des alten Regimes könnte der Irak sich in genau jenes unregierbare Pulverfass verwandeln, vor dem die Kriegsgegner Bush immer gewarnt haben. Daher ist al-Dschasira gut beraten, misstrauisch gegenüber den amerikanischen Ankündigungen zu sein.

Freiheit und Demokratie scheinen sinnentleerte Versprechen zu sein. Die amerikanischen Drohungen gegen Syrien und der Unwillen der israelischen Regierung, den jüngsten Friedensplan zu akzeptieren, bestärken die arabische Meinung in ihrem ewigen Opfersyndrom. Das Problem des arabischen Despotismus und wie man es löst – es wird auf bessere Tage verschoben. SÉLIM NASSIB

Sélim Nassib begleitet in seiner Kolumne die Berichterstattung des arabischen TV-Senders al-Dschasira