piwik no script img

Archiv-Artikel

ein amerikaner in berlin ARNO HOLSCHUH über Fairweather-Fans

Herthaner: Der Ami war daran schuld

Von November bis März ist Berlin für mich eine U-Bahn-Stadt. Um Regen, Kälte und das damit verbundene Lungenentzündungsrisiko zu vermeiden, fahre ich lieber Bahn als Fahrrad. Der Untergrund ist das genaue Gegenteil von draußen: Statt farblos-grauer Himmel ist alles knallgelber Lack und Anti-Graffiti-Sitzpolster, das so aussieht, als hätte gerade jemand darauf gekotzt. Es gibt zwar öfters diesen speziellen Geruch, den die Körper von älteren Männern ausströmen, wenn sie versuchen, über einen längeren Zeitraum zu viel Doppelkorn zu verkraften. Aber an dem Geruch allein ist noch keiner gestorben – an Lungenentzündung schon.

Außerdem habe ich jetzt durch die BVG die Gelegenheit, noch mehr fernzuschauen, als ich es ohnehin tue. Berliner Fenster: mein täglicher Fenster in die Welt. Dank dem Berliner Kurier erfährt man alles, was man so wissen will. Nach diesem Angebot zu beurteilen sind die Berliner wie alle anderen Großstadteinwohner: Sie interessieren sich in erster Linie für eingebildete Prominenz, Elend, und sinnlose Gewalt.

Nur in einem Punkt ist Berlin anders als die Städte, in denen ich zuvor gelebt habe, nämlich Sport. Wenn Hertha mehr als einmal in Folge verliert, was bekanntlich nicht selten passiert, wird im Berliner Fenster gefragt, ob der Trainer Huub Stevens nicht gekündigt werden soll. Dabei hat man das Gefühl, Kündigung würde die Wunschvorstellungen der Fans gar nicht erfüllen. Etwas in der Art von Kreuzigung, Enthauptung oder Abschiebung nach Sibirien wäre eher nach dem Fangeschmack.

Stevens ist aber Teil der Mannschaft, die angeblich von den Fans geliebt wird. So entwickelt sich eine Hassliebe zu Hertha. Um mit diesem psychologischen Widerspruch umgehen zu können, müssen die Hertha-Fans vor und nach jedem Spiel Unmengen Bier einschütten und andere Leute in der U-Bahn mit schlechtem Gesang nerven. Das mag für die anderen Passagiere unangenehm sein, aber sie können nichts dafür, sie leiden an psychischen Qualen.

Ich war drei Jahre Student in Chicago. Dort habe ich als Cubs-Fan das Verlierenlieben gelernt. Eine kurze Geschichte der Cubs: Nachdem sie im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts eins der besten Teams im Baseball waren, wurden sie extrem schlecht. Sie blieben es. Nichtsdestotrotz bleiben wir Fans der Mannschaft treu. Besser noch: Es werden komplizierte Mythen entwickelt, um der Mannschaft selbst die Schuld für das Jahrhundert des Versagens abzunehmen.

In Chicago gilt es etwa als absolute Wahrheit, dass die Cubs unter einem magischen Fluch stehen. Das Märchen läuft so: Ein alter Grieche wollte dereinst mit einer Ziege ein Spiel sehen. Er hatte zwar zwei Karten, aber die Ziege durfte aufgrund irgendwelcher Hygieneregelungen nicht mit rein. Das veranlasste den Griechen, einen bösen altgriechischen Zauberspruch zu äußeren. Deshalb und nicht wegen mangelnder athletischer Leistung sind die Cubs die zuverlässigsten Verlierer im Baseball.

In diesem Jahr schienen die Cubs im Begriff zu sein, den griechischen Bann zu brechen. Sie hatten hervorragende Spieler, waren selbstbewusst, haben immer wieder gewonnen. Dann passierte es: Im vierten Spiel der Halbmeisterschaft schnappte ein übereifriger Fan auf Souvenirjagd nach einem Ball, der von einem Cubs-Spieler hätte gefangen werden können. Ich weiß, dass Baseball schwer zu verstehen ist, also werde ich mich auf folgende Zusammenfassung beschränken: Dieser Fan hat Mist gebaut. Von da an lief alles denkbar schlecht. Die Cubs verloren die nächsten drei Spiele und waren damit aus dem Rennen. Der armselige Fan hatte lediglich einen Spielvorgang von vielen versaut. Trotzdem wurde er für das Scheitern der Mannschaft verantwortlich gemacht. Ihm wurde gedroht, sogar sein eigener Vater hat ihn öffentlich beschimpft. Die Stadt brauchte einen Sündenbock, und der bot sich an.

Das ist schade für diesen Typ, aber eins muss ich sagen: Mit dieser Strategie halten wir Cubs-Fans unsere Welt in Ordnung. Die Mannschaft ist gut, blöde Fans sind schlecht, und alte griechische Männer mit Ziegen gelten als höchst verdächtig. Diese einfache Trennung erlaubt es uns, eine geistige Gesundheit zu genießen, von der Herthaner nur träumen können.

Deswegen schlag ich den Redakteuren des Berliner Kuriers vor, schleunigst einen Hertha-Sündenbock auszusuchen. Ich wäre sogar bereit, mich selbst zu nominieren. Ich bin Ausländer, also eigne ich mich gut, an allem schuld zu sein. Wieso hat Hertha verloren? Arno ist dafür verantwortlich! Der ist ja Ami, weißt du, da steckt bestimmt die CIA dahinter. Im Gegenzug für diesen gemeinnützigen Dienst verlange ich nur eines: ein gepanzertes Auto, denn als Hertha-Sündenbock hätte man mehr als nur Lungenentzündungen zu fürchten.