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Archiv-Artikel

die taz vor 7 jahren über rot-grün und einen möglichen öcalan-prozess in deutschland

Deutschland will den PKK-Führer Öcalan nicht haben; statt dessen versucht man, einen internationalen Prozeß zu organisieren. Was mit Öcalan geschieht, wenn dies mißglückt, ist ungewiß. Das kann man kritisieren. Doch kein Entschluß der rot-grünen Koalition hat derartige Empörung ausgelöst wie dieser. Glaubt man manchen Kommentatoren, werden wir von Feiglingen regiert, die den Rechtsstaat über Bord gehen lassen.

Wirklich: feige? Ging es bei Öcalan um eine Mutprobe, einen Showdown? Oder um eine Abwägung juristischer, innen- und außenpolitischen Gründe?

Die Bundesregierung will keinen Öcalan-Prozeß – nicht, weil sie einen moralischen Defekt hat, sondern weil es dafür gute Gründe gibt. Eine mögliche Eskalation zwischen kurdischen und türkischen Gemeinschaften in Deutschland würde die rot-grüne Integrationspolitik aufs Spiel setzen. Bislang ist die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts kaum auf gesellschaftlichen Widerstand gestoßen.

Das könnte sich dann ändern. Daß Schily, der kürzlich noch die „Das Boot ist voll“-Rhetorik“ bediente, nun islamischen Gemeinschaften den gleichen Status wie christlichen Kirchen geben will, zeigt die rot-grüne Doppelstrategie: überfällige Gleichstellungen durchsetzen, plus das Versprechen, weitere Zuwanderung zu verhindern. Diese Balance wäre durch den Öcalan-Prozeß gefährdet worden. Der wichtigste Einwand gegen einen deutschen Öcalan-Prozeß lautet freilich: Er würde nichts für eine Konfliktlösung zwischen Türken und Kurden bringen. Die PKK hat militärisch verloren; eine politische Lösung ist nun wahrscheinlicher geworden. Die Bundesregierung kann in diesem möglichen Friedensprozeß eine Vermittlerrolle spielen – auch wenn Öcalan hier vor Gericht stünde? Alles gute Gründe, keine Feigheit vor dem Feind. Die mannhafte Prinzipienfestigkeit, die manche bei Rot-Grün vermissen, hätte hier nur die eigene Moral ins trockene gebracht.

Stefan Reinecke, 30. 11. 1998