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Archiv-Artikel

die jugendfreundin von EUGEN EGNER

Ein Mann mit Kopfverband und zahlreichen Pflastern im Gesicht lief die Straße entlang. Eine Frauenstimme rief: „Um Himmels Willen, Otfried!“ Der Mann drehte sich verblüfft um. Am gegenüberliegenden Fahrbahnrand stand ein Pkw. Die Fahrerin, eine Frau in seinem Alter, sah aus dem Fenster. Indem er rätselte, woher sie ihn kennen mochte, fragte sie: „Wie siehst du denn aus? Was ist bloß passiert?“

Er ging zu ihr hinüber, jetzt erkannte er sie als seine Jugendfreundin Elisabeth. Vor über zwanzig Jahren hatte er sie zuletzt gesehen. Ob sie ihn mit ihrem Auto irgendwohin mitnehmen könne, fragte sie weiter. Er antwortete, dass er soeben zum Haus seiner Eltern wolle, und sie erklärte sich bereit, ihn hinzufahren.

„Sag schon“, drängte ihn Elisabeth, sobald sie fuhren, „was ist los? Hast du Ärger mit deinem Bruder gehabt?“ Otfried sah sie entgeistert an: „Mit meinem Bruder?“ – „Ja, mit Ulrich! Ihr habt euch wieder gestritten, wie früher. Man sieht’s.“ – „Du scheinst ganz selbstverständlich anzunehmen, dass ich einen Bruder habe. Das wundert mich. Weißt du denn nicht mehr, dass ich ein Einzelkind war?“ – „Entschuldige, aber man muss ja an deinem Verstand zweifeln.“ Besorgt sah sie dabei seinen Kopfverband an.

„Du hattest schon immer einen Bruder, weil er vor dir geboren wurde. Wie kann man so etwas denn vergessen?“ Allmählich verunsichert fragte er: „Was weißt du von diesem Bruder? Vielleicht kommt mir ja irgendetwas davon bekannt vor, wenn ich es höre. Ulrich heißt er also?“ – „Ja“, sagte Elisabeth. „Mit ihm bist du nie gut ausgekommen. Deshalb habe ich auch vermutet, ihr hättet eure alten Streitereien fortgesetzt. Schon als Kinder habt ihr einen erschreckenden Hass aufeinander gehabt. Wie oft habt ihr euch nicht blutig geschlagen! Und an Ulrichs Konfirmation, das musst du aber doch wissen, hast du ihn mit einem Messer verletzt, weil du gedacht hast, er und ich hätten etwas miteinander. Du hättest ihn fast umgebracht. Deshalb hat man dich auch weggeschickt.“

„Was für ein Quatsch!“, rief Otfried. „Hast du denn alles restlos verdrängt?“, fragte Elisabeth mitleidig. Sie hatten das Haus von Otfrieds Eltern erreicht. Elisabeth bestand darauf, ihn hineinzubegleiten.

„Na schön“, sagte er beim Aussteigen. Er führte sie die Treppe hinauf in sein altes Zimmer. „Gott, wie lange bin ich nicht mehr hier gewesen“, rief sie aus, um dann zielstrebig zum Bücherregal zu laufen. Sie zog sie ein altes Fotoalbum heraus und schlug es auf. „Du hast also keinen Bruder, nein? Und wer ist das hier?“ fragte sie, indem sie auf einen Knaben zeigte, den Otfried noch nie gesehen hatte.

„Keine Ahnung“, erwiderte er. „Den sehe ich zum ersten Mal.“ Zahlreiche Bilder auf den folgenden Seiten zeigten ihn zusammen mit dem Fremden, und beide Knaben hatten darauf zornige Gesichter, oft mit Blutergüssen und Pflastern. Elisabeth wirkte auf einmal ganz fremd, Otfried konnte sich nicht erinnern, sie jemals gesehen zu haben. „Du machst mir Angst“, sagte sie. „Leb wohl. Bemüh dich nicht, ich finde allein hinaus.“

Er ließ sie gehen. Sie eilte die Treppe hinab. Die Haustür fiel ins Schloss, gleich darauf sprang der Motor des Wagens an. Das Geräusch entfernte sich rasch.