die jazzkolumne : Von Paris bis Polen: Lokale Erfahrung im Jazz
Die Seele der Dinge
In der Standortgebundenheit der Künstler liegt ihre Kernkompetenz. Je mehr local man ist, desto größer die Chance auf unbeschränkte Entwicklung, heißt es.
Die Eckpunkte des vergangenen Jazzjahres lesen sich dazu wie der entsprechende Kommentar. Dass der Sopransaxofonist und Komponist Steve Lacy nach mehr als drei Expatriate-Jahrzehnten in die USA zurückgekehrt ist, wurde von der amerikanischen Fachpresse jetzt als großer Zugewinn für die nationale Jazzszene gewertet. Sein vor dem Weggang mehrfach wiederholtes Statement, Paris swinge nicht mehr, wirft hingegen ein Zwielicht auf das Quotendiktat für französische Musikprodukte im öffentlich-rechtlichen Radio, das in einem Anfall von Selbstzensur auch die Club-Szene erwischte. Aus Lacys Perspektive führte der Protektionismus im Musiksektor zu einem subtilen Antiamerikanismus. Aus der französischen Umarmung des Bebop, für die einst der Schriftsteller Boris Vian stand, ist so etwas wie Duldung geworden.
Ein Bild diskursiver Erschöpfung bot sich letztes Frühjahr im Warschauer Zentrum für zeitgenössische Kunst anlässlich eines Konzerts des polnischen Trompeters Tomasz Stanko. Selten ist ein Jazzkonzert von solch nationalem Medieninteresse gewesen, war der Raum mit Publikum überfüllt, waren die Balladen von der neuen CD „Soul Of Things“ lange geprobt. Auf der Pressekonferenz nach dem Konzert machte sich Patriotismus Luft. Besonders Pawet Brodowski, der Herausgeber der Zeitschrift jazz forum, die in besseren Tagen mal in englischer, deutscher und polnischer Sprache erschien, witterte Morgenluft. Schließlich hatte Manfred Eicher, der ECM-Chef und Produzent von Stankos CD „Soul Of Things“ (ECM), gerade einen Grammy gewonnen. Brodowski hoffte nun, dass dieser Preis auch bitte dafür taugen möge, die Ohren der Amerikaner für den europäischen Jazz zu öffnen. Stanko versteht, dass die polnische Jazzszene heute zutiefst irritiert ist, schließlich brachte das Ende der Systeme auch der nationalen Infrastruktur des polnischen Jazz den kleinen Tod. Der Exotenbonus ist passee, die Zeiten des Schwarzmarkts sind Geschichte. Heute verdient Stanko nur noch ein Fünftel von dem, was er vor fünfzehn Jahren von einem Westauftritt mit nach Hause brachte. Und der Blick nach den USA und nach Europa ist für viele polnische Jazzmusiker nicht gerade mit Hoffnung erfüllt. Die Frage an Eicher, ob die Amerikaner den polnischen Jazz nicht spielten, weil sie etwas gegen Polen hätten, ist für die Situation symptomatisch. Das Bild nährt sich nur aus dem Gewesenen, die Vision fehlt.
In Polen hat der Jazz eine wichtige Rolle gespielt, heißt es, und stets galt diese Musik als Vorreiter gesellschaftlicher Entwicklungen. Dennoch weist Stanko jetzt darauf hin, dass die Jazzmusiker nie wirklich in Gefahr waren. Ihre Kunst war – im Gegensatz zur Literatur – einfach zu abstrakt, um vom jeweiligen Regime als machtbedrohend angesehen zu werden. Die internationale Anerkennung des polnischen Jazz bescherte den einheimischen Jazzmusikern zusätzliche Freiheiten. Dass Wynton Marsalis heute vorschlägt, die Verbindung zur Tradition des Jazz herzustellen, findet Stanko wichtig. Er nennt Marsalis seriös und richtungsweisend. Es sei heute nicht die Zeit, neue Stile zu erfinden. Im Gegenteil! Die Zukunft liege in der Aufarbeitung des bereits Vorhandenen, sagt Stanko. Und das brauche Zeit.
Spätestens nach seinem atemberaubenden Konzert beim Frankfurter Jazzfestival 2002 war klar, warum die europäische Kritik „Soul of Things“ eine der besten Jazz-CDs des Jahres nannte. Nach einer kleinen US-Tour von Stankos Quartett steht auch in der besten US-Fachzeitschrift, Jazz Times, dass Stankos CD zu jenen Aufnahmen gehört, ohne die man nicht mehr leben möchte.
Ebenfalls unentbehrlich geworden ist eine Aufnahme des afroamerikanischen Geigers Billy Bang, die im vergangenen Jahr unter dem Titel „Vietnam: The Aftermatch“ (Justin Time) veröffentlicht wurde. In einem Klima voll rabiater Kriegsvorbereitungen hat Bang eine Band mit vier weiteren afroamerikanischen Vietnamveteranen gegründet, um die grausamen Kriegserfahrungen zumindest musikalisch irgendwie abzuarbeiten. Bang sagt, dass Drogen und Alkohol bislang das einzige Mittel gewesen seien, um die Erinnerungen fern zu halten.
In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre lebte Bang in Berlin, und da konnte man ihn häufig sehen, mit seiner weißen Geige und, ja, Auftritten, die zwischen Genialität und hoffnungsloser Besoffenheit schwankten. Jazz-Freestyle-Titel wie „Yo! Ho Chi Minh is in the House“ oder „TET Offensive“ sind Titel eines intimen musikalischen Experiments, in dem es um intensive Sounds, Selbsttherapie und den Schutz des inneren Dschungels geht.
Der spektakulärste Scat des Jahres kommt vom afroamerikanischen Jazzpoet Amriri Baraka, der im Mai (für zwei Jahre) zum offiziellen Lyrikpreisträger des Bundesstaates New Jersey ernannt wurde. Sein Gedicht „Somebody Blew Up America“ (einen Real-Video-Mitschnitt gibt es auf www.amiribaraka.com zu sehen) ist ein aggressives Anti-Bush-und-Scharon-Poem. Doch lautstarken Forderungen, dafür den Preis zurückzugeben, beantwortete er mit der Gründung eines Poet-Netzwerkes und der Parole „Poet On!“ CHRISTIAN BROECKING