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Archiv-Artikel

die jazzkolumne Individualisten: Stefon Harris und Steve Coleman

Aktivposten nach Marsalis

Nach Lionel Hampton und Red Norvo war Milt Jackson der coolste Vibrafonist. Er kopierte und imitierte bis zum Geht-nicht-mehr – und kam dann mit einem völlig neuen Sound. Das fiel noch in die Zeit der großen Neuerungen. Später ging es Jackson vor allem um Respekt, um eine möglichst breite Anerkennung des Jazz.

Der 29-jährige Vibrafonist Stefon Harris – von Jackson kurz vor dessen Tod 1999 noch zum Hoffnungsträger ausgerufen, die Erbfolge im Jazz schreibt es so vor – will daran anknüpfen. Seine Arbeit für seinen einstigen Mentor Wynton Marsalis ging schon eindeutig in die Richtung. Und mittlerweile begreift sich Harris als Aktivposten der Post-Marsalis-Generation. Für ihn repräsentiert Wynton Marsalis vor allem den so genannten Retro-Jazz: Was er am Lincoln Center macht, erinnere an herkömmliche Museumskultur und komme vom Ansatz her aus der klassischen Ecke. Mit der Tradition des Jazz – zumindest so, wie Harris sie jetzt verstehen will – habe das aber eher wenig zu tun.

So knapp dieser Anti-Marsalis-Argumentationskanon auch immer schon war, genützt hat er keinem so richtig. Denn die Forderung, dass es um die Erfindung des Neuen und die Entdeckung des Eigenen gehe, wird nicht dadurch cooler, dass sie immer und immer wieder postuliert wird.

Der Saxofonist Steve Coleman, Gründer des afroamerikanischen Musikerkollektivs M-Base und prominenter Marsalis-Widersacher aus den Tagen des großen Streits, wird zwar häufiger von jüngeren schwarzen Jazzmusikern wie Harris als Ideengeber und spiritueller Mentor genannt – seine diversen M-Base-Internet-Auftritte suggerieren Bedarf nach Indie-Struktur, Community und Identität. Doch der Free Download von MP3-Files, Partituren und Theoremen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Colemans komplexe Rhythmusstrukturen sich ständig reproduzierend durch die Jazzmoderne lahmen. Für die kleine Masterclass der Marsalis-Coleman-Generation, die den Diskurs „Retro-Avantgarde-Tradition“ bis Mitte der Neunzigerjahre geprägt hat, ist Hipness keine Frage der Suche nach drogenverzerrten Vor- und Spiegelbildern, sondern von Content, Respekt und Niveau.

Was Steve Coleman und Wynton Marsalis eint, ist wesentlich mehr als die Melodiearmut ihrer Kompositionen: Beide haben sie den Individualismus der kreativen Künstler auf die Tagesordnung der Musikindustrie gesetzt und ihre Karten so weit ausgereizt, dass sich die Plattenfirmen, in ihren Fällen die Majors BMG und Sony, aus dem jeweiligen Deal verabschiedeten.

Stefon Harris sieht das Problem, na klar, auch – die Retrobewegung hat die Energie der jungen Musiker kanalisiert und, mag sein, unter dem Imitationsdogma kurzfristig verbraucht. Aber sie hat auch Erfahrungen gebracht, die jetzt gefragt sind. Wer mit Anfang, Mitte 20 einen Vertrag mit einer großen Plattenfirma hatte, braucht nicht bis zur Rente drauf zu warten. Wer wie Harris universitäre Abschlüsse in klassischer Musik und Jazz vorweisen kann, mag es sich leisten, das Vibrafon als das zu sehen, was es eigentlich ist: ein großer Haufen Metall. Aber Milt Jackson habe ihn zum Singen gebracht, sagt Harris.

Nur mit dem Erfinden neuer Stile tut sich Harris noch schwer, da helfen die wortgewaltigen Titel auch nicht so recht weiter. „The Grand Unification Theory“ heißt seine dritte CD, die gerade mit einiger Verspätung bei Blue Note erschienen ist. Es ist eine Auftragskomposition für zwölfköpfiges Ensemble, die Harris als autobiografische Momentaufnahme bezeichnet, und entsprechend vertraut klingt das Zeug auch. Selbst wenn man die Frage ausspart, was ein knapp dreißigjähriger Musiker an biografischen Details und Erkenntnissen mitzuteilen hat, die eine Konservierung auf Notenblättern und CD rechtfertigen – diese Aufnahme klingt wie das Musterbeispiel einer Musik, die angestrengt die Konventionen beachtet und doch kein Mainstream ist.

Harris bezeichnet neben Marsalis noch Ornette Coleman als eine seiner wichtigsten Inspirationsquellen: Weil er so grundverschieden von allem gewesen sei, was zu seiner Zeit angesagt war, weil er sich mit seiner Sache durchsetzte und heute zu den wichtigen Konstanten der Jazzgeschichte zählt. Fast schon paradox, und das ist nicht nur bei Harris so, klingt es, wenn man die alten Helden für ihren Individualismus liebt und preist und dann nach Community sucht und ruft.

Mit seiner Vorstellung von einer Jazz Community bezieht sich Stefon Harris auf die gesellschaftliche Erfahrung der amerikanischen Schwarzen in den Sechzigerjahren. Er bemängelt, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl jener Tage, das er selbst nur vom Hörensagen kennt, den heutigen Jazzmusikern fehle – die vermeintlich intakte afroamerikanische Community, in der es schwarze Unternehmer und Banken gab und die Familienstrukturen besser funktionierten als heute.

Harris spricht von „Say it loud I’m black and I’m proud“ und bemängelt im gleichen Atemzug, dass heute jeder sein Ding macht. Das Problem, das sich andeutet, ist: Wer hinter Marsalis und Steve Coleman zurückgeht, trifft auf den schwarz nationalistischen Argumentationskanon. Musikalisch gesehen reichen die News dann aber über den 1965er-Ramsey-Lewis-Hit „The In Crowd“ kaum hinaus. CHRISTIAN BROECKING