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Archiv-Artikel

die brüchige erinnerung des zeugen peter s. Prozess um Messerstiche im Obdachlosenheim

„Erst mal eene roochen“

Jetzt ist es so weit gekommen, dass Frank J. im Landgericht auf der Anklagebank sitzt wie ein Verbrecher, einen Mordversuch wirft man ihm vor. Und dass Frank J. dieser Umstand nicht passt, ist dem 36-jährigen arbeitslosen Gleisbauer deutlich anzumerken. Breitbeinig sitzt er da, den kräftigen Körper nach vorne gelehnt, der Blick ist finster, so aufsässig, wie man in einer solchen Situation nur gucken kann. „Ich sag nichts!“, raunzt er dem Richter gleich bei Prozessbeginn zu.

Vier Schnittverletzungen am Hals eines anderen sind schuld daran, dass er nun vor Gericht sitzt. Am 18. Februar sollen die Schnitte verübt worden sein, mit einem einfachen Brotmesser. Das Opfer wäre daran fast gestorben. Nur eine Notoperation im Krankenhaus konnte den Bewusstlosen retten – so tief waren die Wunden.

Der andere, von dem hier die Rede ist, heißt Peter S., ein kleiner Mann mit Bart, der in Pantoffeln in den Gerichtssaal trippelt. Im Obdachlosenheim in Reinickendorf, in dem sie alle wohnen, rufen sie ihn „Peterchen“ oder „der kleine Peter“. Eine „ruhige, unauffällige Erscheinung“, nennt ihn die Heimleiterin, den größten Teil des Tages sitze er auf einem Stühlchen im Flur. Man kann sich schwer vorstellen, warum einer diese harmlose Gestalt angreifen sollte.

Die Anklage sagt, dass es wegen Geld gewesen ist. An jenem Tag hatte Peter S. mit seinen Kumpels seine Unterstützung vom Sozialamt abgeholt und war danach Schnaps und Zigaretten einkaufen gewesen. Auf dem Weg zurück ins Wohnheim hatten sie alle angefangen zu trinken. Ein heiteres, monatlich wiederkehrendes Zeremoniell.

Der Angeklagte Frank J. habe den kleinen Peter dann um 60 Euro gebeten. Dieser habe ihm indes nur 15 Euro gegeben. Daher habe Frank J. den schon betrunkenen Peter S. auf die Wohnheimtoilette geschleppt und ihm mit einem Messer in den Hals gestochen. Im Glauben, dass sein Opfer bereits tot sei, habe er einige Stunden später eine Suche nach Peter S. initiiert. Der schwer Verletzte wurde gefunden. Der Hausmeister alarmierte den Notarzt. Vielleicht ist es so gewesen.

Die Aussage des Opfers bestätigt diese Version: „Der Kollege is mir mit’m Messer an die Knochen gegangen“, erklärt Peter S. Allerdings gibt es keine Zeugen für diese Attacke. Und die Erinnerung von Peter S. ist längst brüchig geworden, vom Alkohol und von den Verhältnissen ganz allgemein. Plötzlich sagt er, dass er im Garten gesessen habe an jenem Tag. Es sei nichts Besonderes passiert. Er habe sich ein Pflaster auf die Wunde geklebt, nichts weiter, der Angeklagte habe ihm dabei geholfen. Überdies erzählt ein als Zeuge geladener Kumpel, Peterchen habe eigentlich nie gewusst, wer ihm die Stiche verpasst hatte, er konnte sich einfach nicht erinnern. Überhaupt beschäftige sich in dem Wohnheim keiner mehr mit dem Vorfall. Sie wohnen zusammen, der Februar ist lange her.

Nicht einmal Peter S. scheint sich wirklich dafür zu interessieren. Er schlurft aus dem Gerichtssaal. „Erst mal eene roochen“, sagt er und nickt dem Richter zu. Am Donnerstag wird der Prozess fortgesetzt. Es könnte sein, dass er mit einem Freispruch endet. KIRSTEN KÜPPERS