der rote faden : Akten und Verzweiflung: Gedanken zum Tag der Deutschen Einheit
durch die woche mit
Daniel Schulz
Terror ist Kommunikation. Wenn sich Dschihadisten in die Luft jagen oder Rechtsextreme jemandem eine Bombe an die Tür hängen, dann soll dem Staat, der Gesellschaft, dem „System“ etwas mitgeteilt werden. So in etwa diskutieren das Wissenschaftler. – Antje Hermenau, die ehemalige Grünen-Fraktionsvorsitzende in Sachsen, hat am Mittwoch im Deutschlandfunk über die beiden Sprengstoffanschläge in Dresden gesagt, der Angriff auf das Internationale Congress Center „galt ja einem kleinen Quader auf der Außenfläche. Das ist eigentlich symbolisch, glaube ich, und soll bedeuten, dass man den ernsthaften Dialog will.“ Sie erwähnt die Familie des Imams nicht, dessen zehnjähriger Sohn sich fürchtet, nachdem er den zweiten Anschlag auf die Moschee erlebt hat, und sagt stattdessen, dass „der Gefühlsstau so groß geworden ist, dass immer mehr entschlossene fanatisierte Leute von der einen Seite oder der anderen Seite zuschlagen“.
Schauen Sie sich das Interview im Wortlaut an, es ist wohl eher kein Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs über Terror und Kommunikation, sondern eine Rechtfertigung dafür, seinem rassistischen Hass mit ein bisschen Sprengstoff Nachdruck zu verleihen. Nebenher bagatellisierte Hermenau die Morde von München im Juli und das Attentat von Ansbach, aber das geht im Absurden unter. Der Kollege Daniél Kretschmar erinnerte sich auf Facebook an die von „quaderinduzierter Verzweiflung“ ergriffenen Neonazis seiner Jugend, und ein bisschen Verzweiflung hat auch mich ergriffen, weil am Montag Tag der Deutschen Einheit ist und ich mir gut vorstellen kann, wie der Tenor dieses Interviews von Antje Hermenau von ostdeutschen PolitikerInnen wiederholt wird. Bereinigt um die krassen Klopper, aber sinngemäß: 25 Jahre Wohlstandsvernachlässigung des Ostens durch den Westen, stummer Schrei nach Liebe, wir müssen mehr reden.
Bitte nicht.
Ließe sich dieser Tag nach über zwei Jahrzehnten mal anders nutzen als für ein öffentliches Ehegespräch zwischen zweien, die nur geheiratet haben, weil Papa Gorbatschow und Mama Thatcher es zugelassen haben? Ein paar Gedanken, für alle, die sich angesprochen fühlen mögen:
1. Nevim Çil lesen. Die Forscherin hat, vor sieben Jahren, in ihrer Doktorarbeit untersucht, wie türkeistämmige Migranten den Mauerfall und die Zeit danach empfunden haben. Erst Freude, dann das Gefühl von Zurücksetzung und der Eindruck, Ostdeutsche würden bei Jobs bevorzugt. Gerade die Söhne und Töchter der ersten Migranten schlussfolgerten, das mit dem Integrieren nütze nichts mehr, weil erst einmal die Brüder und Schwestern aus Suhl und Neubrandenburg eingegliedert werden mussten. Wenn am 3. Oktober schon über Gefühlsstau geredet wird, dann bitte mal über denjenigen derer, die schon länger in der Bundesrepublik leben. Bisschen rückwärtsgewandt? Mag sein, her mit anderen Einfällen. Es wäre nur schön, wenn dieser Tag der Einheit vermitteln würde, alle in diesem Land dürften dabei mitmachen.
2. Nach Osteuropa fahren. Hätte man aus der DDR ein kleines besseres sozialistisches Paradies machen können, wenn das blöde Volk nicht auf Helmut Kohl gehört hätte? Einige in Ostdeutschland glauben das noch immer oder wieder. Wie wäre es mit Reisen nach Tschechien oder Polen, Gesprächen mit denen, die dort die Umbruchsjahre bewältigen mussten ohne einen reichen Verwandten an der Seite, der bis heute Solidaritätszuschlag zahlt. Vielleicht würde sich die Erkenntnis in die Herzen der ostdeutschen Reiseteilnehmer stehlen, dass der Solidaritätszuschlag zwar kein Ersatz für eigenes Glück ist, aber die Knete aus Bayern und NRW schon hilfreich war. Eventuell, uiuiui, wäre sogar etwas Bewunderung für unsere Nachbarn im Osten und Dankbarkeit für unsere Landsleute im Westen drin.
3. Gegen das Staatsversagen demonstrieren. In dieser Woche hat Beate Zschäpe im NSU-Prozess mal wieder nichts gesagt. In der Woche davor berichtete die Welt, die Bundesanwaltschaft habe wichtige Materialien vernichtet – nach zehn Jahren unaufgeklärten Mordens, mit Geheimdienstleuten in der Nähe von Tatorten, mit geschredderten Akten. Dagegen hilft nur ein großes Aufstehen. Ob es im Einzelnen nun Schlamperei, Vorsatz oder Zufall war, spielt im Gesamten schon keine Rolle mehr. Ein Überwachungsapparat ruft nach immer neuen Befugnissen, kann seine Bürger aber weder schützen noch die Taten aufklären. Das, nicht die Überforderung durch die „Flüchtlingskrise“, ist ein wahres Versagen des Apparats, auf den wir alle uns im Zweifel verlassen müssen – und da wäre Verzweiflung durchaus verständlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen