daumenkino : „Factotum“
Kennst du diesen Chefarzttyp, der völlig von sich vereinnahmt ist? Der von der Bürde seiner Würde überwältigt würde, wüsste er nicht mühsam seine Schritte zu setzen. Der, öffnet er den Mund, Bedeutsames sagt, und zwar ins Leere. Er fokussiert dich nicht. Du bist gar nicht da. Du müsstest dein Knie anziehen, und ihm in die Eier hauen.
Im Kino hatte ich niemanden zum Hauen. Es wurde mir zur Masoveranstaltung. 90 Minuten war er mit dem Chefgehabe im Bild, dieser Matt Dillon. Dabei sollte er den genialen Aushilfsjobber, Ficker, Säufer und Dichter Henry Chinaski aka Charles Bukowski verkörpern. Das Leben muss sein, und das Schreiben hat die Priorität, belehrt mich Matt Dillon. – Ai, ai, Sir, gewiss, ich seh’s doch außerdem im Bild. Alles eins zu eins, alles Doubletten. Und der bedeutende Regisseur Bent Hamer hat es mit „Factotum“ in die Quinzaine von Cannes geschafft. „Kitchen Stories“ mochte ich doch, und den Matt Dillon aus „Drugstore Cowboy“ sowieso. Das war vor 16 Jahren gewesen. Wieso fixiere ich mich jetzt auf einen Hauptdarsteller, der sich angestrengt bemüht, dominant zu sein, aber genau das nicht bringt? Spannende Frage. Komme ich nach 90 Minuten nicht zur Diagnose, ist die Anamnesezeit vertan. Bin ich als Rezensent eventuell selbst Chef und Würdenbürdenträger?
Dann hab ich’s. Ich komm mit dem Pseudomacho Matt nicht klar, weil ich nicht genug Frau bin. Im Film gucken all die, die er Weiber nennt, mit großen, traurigen Augen, wenn sie ihm nicht mehr gut zum Ficken sind. Abgesehen vom Ficken sind Weiber zu nix gut. „Sehen wir doch den Tatsachen ins Auge. Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht. Also Schluss. Aus“, verfügt er, und unterwürfig wagt die Frau den letzten Liebesblick.
Na klar. So hat es Bukowski geschrieben, aber nicht auf den Leib von Matt Dillon. So wie er den lieben langen Film hindurch immer dasselbe Gesicht macht, das muss harte Arbeit sein. Diese Anspannung, sich in den endlosen Großaufnahmen zu verstellen, die Lippen verkniffen, die Augen irgendwo – mein Gott der Mann ist ja so was von zu. Ich glaub, ich muss Mitleid haben. Da hat jemand ein Problem.
Die starre Mimik, die er bis zum Schluss durchhält – kostet die ihn eventuell doch keine Anstrengung? Um beim Thema zu bleiben: Der Chefarzt in der Psychiatrie (ein anderer als der am Anfang, der war von der Chirurgie), also der Chefpsychiater im Universitätskrankenhaus litt an einer Nervenerkrankung, die ihm das Mienenspiel versagte. Die Patienten wussten von nichts. Sie konnten ihm so viel erzählen, wie sie wollten, an ihm, dem steinernen Gast, prallte Menschenleid ab. – Klar, Matt hat ein Nervenleiden, der Arme. Oder aber, so kam mir ca. in der 70. Minute der Gedanke, war beim Lifting was schief gelaufen? Hatte der Chefschönheitschirurg nur an Fotos gedacht und nicht an bewegte Bilder? Oder hatte er, der Lifter, darauf vertraut, dass Dillons Mimik schon hineindigitalisiert werde? – Mein Gott, ich sehe schon, ich werde mit diesen Fragen allein gelassen.
Da! Es kommt noch was! Matt richtet das Wort an mich! Maßstab beim Schreiben soll nicht der Verleger sein oder der Lektor oder die Redakteurin, sondern einzig und allein: Ich. Das ist okay. In diesem Text kommt es elfmal vor, das Wort Ich.
DIETRICH KUHLBRODT
„Factotum“. Regie: Bent Hamer. Mit Matt Dillon, Lilli Taylor u. a., USA/ Norwegen/ Deutschland 2005, 93 Min.