daumenkino : Hannibal Rising
Aus den Jugendjahren eines Serienmörders: Hannibal Lecter (Gaspard Ulliel) und seine Schwester Mischa, Sprösslinge adliger litauischer Eltern, die eben durch Nazibomben zu Tode kamen, fallen im Wald marodierenden Söldnern in die Hände. Um den Kriegswinter zu überleben, stellen die Männer das Fressen vor die Moral und töten Mischa. Hannibal entkommt, erst später erfahren wir, wie. Dann ist aus dem Knaben ein junger Mann geworden, der seine morbiden Neigungen hinter Arroganz und unbestechlicher Intelligenz zu verbergen weiß.
Mit pedantischer Ausführlichkeit hakt das Drehbuch seinen Werdegang zu „Hannibal, the Cannibal“ ab. Seine Unempfindlichkeit gegenüber körperlichen Schmerzen, seine Disziplin und seine Vorliebe für scharfe Messer verdankt er seiner japanischen Tante (Gong Li), die ihm eine Erziehung im Geist der Samurai angedeihen lässt. Seinen Geschmack für gutes Essen dem französischen Koch seiner Tante. Seine Kenntnisse menschlicher Anatomie einem Medizinstudium in der Pathologie. Derart ordentlich ausgerüstet, ist es kein Problem, seine Peiniger von damals aufzuspüren, um sie einen nach dem anderen zu filetieren. Der Polizist, der Lecter auf die Spur kommt, weiß alles und kann nichts verhindern. Und Gong Li zeigt zu allem ihr schönes und trauriges Gesicht.
Mal ehrlich: Wer wollte das wissen? Genealogien von Superhelden, das nachträgliche Aufschreiben ihres Woher und Warum, sind ja derzeit Trend auf der Leinwand. Wie Bond solch ein kaltschnäuziger und frauenverachtender Typ im Dienst der Königin werden konnte, wissen wir jetzt. Auch Batman hatte ja unlängst einen Neubeginn verordnet bekommen, und auch dieser war mit zahlreichen küchenpsychologischen Erklärungen – traumatisch erlittener Tod der Eltern, Angst vor Fledermäusen – verbunden, um plausibel zu machen, warum ein erwachsener Mann sich eine Maske mit spitzen Ohren überzieht. In beiden Fällen wurde auch in stilistischer Hinsicht Tabula Rasa gemacht: weg von Augenzwinkern und Ironie, hin zu einem verschwitzten, körperlichen Realismus. An beidem hat es Hannibal Lecter nie gemangelt. Als Super-Bösewicht hat er zudem das Privileg, niemandem eine Erklärung schuldig zu sein, weder für seine Handlungen noch für seine charakterlichen Defizite.
Ihn nachträglich auf die Couch zu legen und zum Racheengel zu stilisieren, wirkt wie die schnöde Retourkutsche des (hier auch fürs Drehbuch zuständigen) Autors Thomas Harris an seiner berühmtesten Schöpfung, die als Nebenfigur begann, aber schon bald das Werk des Schriftstellers dominierte. DIETMAR KAMMERER
„Hannibal Rising“. Regie: Peter Webber. Mit Gaspard Ulliel, Gong Li, Ghys Ifans. USA 2006, 121 Min.