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Archiv-Artikel

das sommerwunder WALTRAUD SCHWAB erklärt, warum die Berliner im Sommer zu Hause bleiben

Die Stadt liegt am Meer

Das ist ein Sommer. Zum auf die Schenkel klopfen, zum in Schweiß baden, zum die Luft anhalten. Ein Sommer mit Sonne, mit Hitze und Durst. So einer, den sich alle Berlinerinnen und Berliner erträumt haben. Einer, um dessen Zauber sie letztes Jahr wussten und all die Jahre davor auch. Ein echter Sommer eben. Nackt laufen die Leute durch ihre Wohnungen, sitzen auf den Balkonen, stellen die Füße ins kalte Wasser und wissen: Diese Stadt liegt am Meer.

Zugegeben, niemand hier konnte sicher sein, dass es den Traumsommer tatsächlich gibt. Seit Jahren ist er Phantasma, aber was macht das schon? Nichts. Denen, die daran glauben, geht es um die Idee. Es geht auch um den Sinn des Lebens und die Frage nach dem Wesen der Dinge. Vor allem aber geht es um eine Überzeugung.

Also, noch mal von vorne: In diesem Text ist der Sommer Thema und dass die richtigen Berliner Einheimischen überzeugt sind, dass wegfahren nicht lohnt. Es hat sich vor zehn Jahren nicht gelohnt, als der ganze Sommer verregnet war und nur im Juni eine Woche lang die Sonne schien. Es hat sich vor neun Jahren nicht gelohnt, als es fast den ganzen Sommer über regnete, nur im Juli gab es einmal einen Tag, an dem es heiß war. Es hat sich vor acht Jahren nicht gelohnt, als der ganze Sommer wegen der Klimakatastrophe sehr nass war, nur im September, als die Strandbäder schon geschlossen hatten, da war es schön. Es hat sich vor sieben Jahren nicht gelohnt …

Die Aufzählung ist unvollständig, die Idee aber sollte klar geworden sein: Obwohl der Berliner Sommer in Wirklichkeit eine Chimäre ist, behauptet der überzeugte Hauptstadtmensch: „Ein Blödsinn, wegzufahren, ausgerechnet dann, wenn es in der Stadt am schönsten ist? Dann, wenn es warm ist, wenn man auf Treppen sitzen kann, um Zeitung zu lesen, wenn die Vögel zwitschern, die Linden duften, die Stühle vor den Cafés stehen und die Bootsverleiher über die Lautsprecher ‚O sole mio‘ laufen lassen anstatt ‚Ich steh im Regen und warte auf dich‘.“

Paris, New York, London. Die Einheimischen dort kämen nie auf den Gedanken, den Sommer über in ihren Metropolen herumzusitzen, aus dem Fenster zu starren, im Tretboot auf dem Hudson, der Themse, der Seine zu gondeln, einen Espresso zu trinken, den Enten im Park zuzuschauen. Das ganze Jahr über können sie das haben. Wozu dann auch noch im Sommer?

Ganz anders hier: „Warum wegfahren im Sommer?“, sagt die gebürtige Türkin, die als Erzieherin in Neukölln arbeitet. „Warum wegfahren im Sommer?“, sagt der gebürtige Franzose, der Freigänger betreut. „Warum wegfahren im Sommer?“, sagt der gebürtige Hesse, der zum Wandern auf den Kreuzberg steigt, und zum Surfen geht’s an den Wannsee. „Ich hab’ doch hier alles. Mehr Sand als an der Costa Brava, mehr Strand als in Rimini.“

Nur die junge Berlinerin, die endlich wissen will, wovon die Leute sprechen, kauft sich zwei Wochen Santorini und kommt nach einer Woche aus Heimweh zurück.

Nun aber ist es geschehen: Endlich sind sie belohnt worden, diese Hauptstadtmenschen. Auch die Wernern, die Nachbarin aus dem zweiten Stock. Da vorne kommt sie angeschlurft, Frau „von’n Schlossermeester“ ist sie. „Aus’n Wedding.“ Auch sie ist in Berlin geblieben, wie jeden Sommer, weil es so schön ist, wenn die Sonne scheint. Dann kann sie auf dem Balkon sitzen und die Füße ins kalte Wasser stellen, erzählt sie. „Maloorka“ macht sie im Winter. „Da is et billjer.“

Verstehen Sie das jetzt? Es geht um nichts. Das ist alles. Der wirkliche Grund aber, der die Überzeugung erst zu einer Frage des Seins macht, der ihr Substanz gibt und eine gehörige Portion Glaubwürdigkeit: Monatelang wird auf den Sommer gewartet.

Wer will ihn da verpassen, wenn er mal kommt?