das englische kettenbriefmassaker von RALF SOTSCHECK:
Der gute alte Kettenbrief – selbst das elektronische Zeitalter konnte ihm nichts anhaben. Neulich erhielt ich von einer Kollegin eine E-Mail, die ich an zehn Leute weiterschicken sollte. Andernfalls, so drohte man mir, hätte ich mit dem Schlimmsten zu rechnen: finanzieller Ruin, mehrere böse Krankheiten, qualvoller Tod. Als Beweis waren zahlreiche Beispiele angeführt, in denen Menschen leichtfertig auf die Löschtaste gedrückt hatten, statt den Brief weiterzuleiten, und prompt verstarben. Ich schickte die Schreckensmail vorschriftsmäßig weiter, man kann ja nie wissen.
Früher hat man sich auf höfliches Bitten beschränkt, obwohl die Sache viel aufwendiger war. Der Brief musste mehrmals per Hand abgeschrieben werden, man musste eine schöne Ansichtskarte aussuchen und alles heimlich zur Post tragen. Mein Vater war nämlich Postbeamter, und Kettenbriefe waren postalisch nicht zulässig.
Einmal hatte jemand die Idee, mit einem Kettenbrief reich zu werden: Statt eine Ansichtskarte zu schicken, sollte man eine Mark an die oberste Adresse auf dem Kettenbrief überweisen. Ich bekam den Brief im Laufe eines Jahres dreimal, tat jedesmal meine Pflicht, aber keine müde Mark trudelte ein.
Craig Shergold aus der südenglischen Grafschaft Surrey war erfolgreicher. 1989, als bei dem damals Siebenjährigen ein unheilbarer Hirntumor festgestellt wurde, war sein letzter Wunsch eine Eintragung ins Guinness-Buch der Rekorde. Das wollte er mit der größten Sammlung von Genesungswunschkarten erreichen. Zu diesem Zweck wurde ein Kettenbrief aufgesetzt, der in Windeseile um die Welt ging.
Schon bald trafen die ersten Karten ein, bis heute sind es 150 Millionen Stück. An manchen Tagen kamen 10.000 Karten an. Die Post musste ihren Computer neu programmieren und richtete Shergold einen eigenen Sortiercontainer ein, der im Normalfall für eine ganze Grafschaft ausreicht.
Offenbar wirkten die geballten Genesungswünsche. Shergolds Hirntumor stellte sich als heilbar heraus, dem heute 18-jährigen geht es blendend, doch der Kartenstrom reißt nicht ab und treibt ihn in den Wahnsinn. Schließlich müssen die Umschläge geöffnet werden, bevor sie zur Altpapiersammlung gegeben werden, es könnte ja private Post dabei sein. Shergolds Mutter Marion, die 1993 ein Buch über die wundersame Heilung ihres Sohnes veröffentlicht hat, bettelte vor sechs Jahren verzweifelt im Fernsehen, bloß keine Karten mehr zu schicken.
Ihr Aufruf war vergeblich, der Kettenbrief hatte längst ein Eigenleben entwickelt. Craig Shergold war zu John Craig geworden, und aus den Gute-Besserung-Karten waren firmeneigene Kurzbriefvordrucke geworden. Es gibt tatsächlich genügend Menschen, die das Sammeln von Kurzbriefvordrucken für ein vernünftiges Hobby halten. Shergold könnte damit erneut ins Guinness-Buch eingetragen werden.
Ich will gar nicht ins Guinness-Buch. Aber ich hätte gerne die größte Guinness-FlaschenSammlung der Welt. Ich werde einen Kettenbrief starten.
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