crime scene : Schuldig durch Schweigen: Jan Costin Wagner erzählt eisgekühlt von alten Wunden und verschlossenen Menschen
Kriminalromane schreibt Jan Costin Wagner im Grunde eher nicht. Eher bedient er sich des Genres, um dem Unsäglichen auf die Spur zu kommen. Auch sein vierter Roman, „Das Schweigen“, handelt von Dingen, die sich schwer fassen lassen, von Beziehungen zwischen Menschen, in denen über das Wesentliche nie gesprochen wird, und nicht zuletzt davon, dass Reden wie Schweigen gleichermaßen imstande sind, Menschenleben zu zerstören. Es gibt keinen einfachen Ausweg. Doch auch die bitteren Einsichten können ja, in Literatur gefasst, einen eigenen Reiz entfalten.
Dass es hier jedoch nicht um die wohlfeile Ästhetisierung brutaler Gewaltverbrechen geht, macht gleich das Einstiegskapitel deutlich genug. In diesem wird die Vergewaltigung eines Teenagers mit anschließendem Mord am Vergewaltigungsopfer geschildert. In sachlichem, knappem Erzählduktus, sehr unaufgeregt und aus der Sicht des nächsten Augenzeugen, eines pädophilen Kumpans des Täters. Mit der Tat selbst hat er nichts zu tun, er hat sie lediglich mit angesehen, ohne sie zu verhindern, und dabei den Lenker des verwaisten Mädchenfahrrads gehalten. Das Kapitel endet damit, dass er aus dem ländlichen Vorort, in dem sich das Ganze abgespielt hat, verschwindet und seine Spuren verwischt.
Diese schwer zu ertragende Einstiegspassage muss der Autor uns antun, damit wir um die Hintergründe der nun folgenden eigentlichen, 33 Jahre später spielenden Handlung wissen, worin an derselben Stelle, an der in den Siebzigerjahren das Fahrrad der Ermordeten gelegen hatte, wieder das Rad eines vermissten Mädchens gefunden wird. Der damals beteiligte Zeuge sieht Bilder davon im Fernsehen und erleidet einen tiefen Schock. Das bohrende Gefühl der Mitschuld treibt ihn hinaus aus seiner unauffälligen bürgerlichen Existenz als Familienvater. Unter einem Vorwand fährt er davon, begibt sich zu den Schauplätzen von damals, besucht den Täter, den Tatort, die Mutter des Opfers und schließlich den See, in dem der Täter die Leiche versenkte. Bei solch auffälligem Verhalten ist es kein Wunder, dass die Polizei ihn für den Mörder halten muss.
Als Polizei fungieren Wagners junger Kommissar Kimmo Joentaa, der im Roman „Eismond“ seine Frau verloren hatte und nun immer noch an seiner Trauer trägt, sowie der pensionierte Kommissar Ketola, der damals den Fall des ermordeten Mädchens nicht hatte aufklären können.
Wagners knappe, kühle Sprache beschränkt sich auf das Wesentliche. Er beschreibt nicht das Grauen, sondern die Leerstelle im Menschen, an der es sitzt. Obwohl ausschließlich in erlebter Rede, aus der Perspektive der Figuren erzählt wird, scheint eine eigentümliche Distanz zwischen den Charakteren und ihrem eigenen Innern zu bestehen. Auch die erlebte Rede bleibt der beschreibenden Ebene verhaftet. Diese Erzählhaltung ist besonders ausgeprägt bei dem durch sein Schweigen schuldig gewordenen pädophilen Familienvater. Immerhin ist dieser ein Charakter, der sich heftig darum bemüht, sein Innerstes verschlossen zu halten, wenn möglich auch vor sich selbst. Doch auch die anderen Charaktere scheinen kaum Zugang zu sich zu finden und, fast noch schlimmer, auch nicht zueinander. Sprechen ist eben doch schwieriger als schweigen.
Zumal für Finnen, ist man fast versucht hinzuzufügen. Dass Wagners Bücher in seiner zweiten Heimat Finnland spielen, ist wohl kein Zufall, sondern eben doch eine bewusste Genreentscheidung. Dadurch wird ein derart eisgekühltes Werk wie „Das Schweigen“ ohne weiteres Zutun zum quasi nordischen Kriminalroman. Passt auch besser. Denn einem, sagen wir, Frankfurter Kommissar würde man eine so beharrliche Kommunikationsunfähigkeit vielleicht als allzu manieriert ankreiden. KATHARINA GRANZIN
Jan Costin Wagner: „Das Schweigen“. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007, 284 Seiten, 19,95 Euro