crime scene : Brutal wuchtig: Mit „1977“ liegt jetzt der zweite Band aus David Peace’ „Red Riding Quartet“ auf Deutsch vor
Lange bevor David Peace zum Autor der wohl härtesten Serienkiller-Romane wurde, die derzeit auf dem Markt zu haben sind, war er vermutlich ein sehr sensibles Kind. Seine Kindheit fiel in den Siebziger- und Achtzigerjahren in eine Zeit, in der der „Yorkshire Ripper“ – ein Serienmörder, der jahrelang Frauen tötete, ohne dass die Polizei ihn fassen konnte – den ganzen Landstrich in einem Zustand permanenter Angst hielt. Mit zehn Jahren entwickelt Peace die fixe Idee, sein Vater könnte der Ripper sein. Auch lange danach, als dieser Verdacht durch veröffentlichtes Beweismaterial längst widerlegt ist, lebt der Junge noch in der Angst, seine Mutter könnte zum nächsten Opfer des Mörders werden.
Das erzählt Peace in der Zeitschrift Crime Time und liefert damit großzügig selbst den Schlüssel für sein „Red Riding Quartet“, eine Tetralogie über Yorkshire im Jahrzehnt des Rippers; vier Romane, deren brutale Wucht mit Genre-Etikettierungen wie „hardboiled“ oder „Roman noir“ nur unzureichend beschrieben ist. Denn der Anteil des Posenhaften scheint relativ gering. Hier arbeitet jemand erkennbar echte Obsessionen ab.
Auf Deutsch ist mit „1977“ soeben der zweite Band des Quartetts erschienen, der in mancher Hinsicht fortsetzt, was in „1974“ begonnen wurde. „1980“ führt „1977“ fort, so wie der letzte Roman, „1983“, sowohl an „1980“ wie an „1974“ anknüpft. Selbst wenn man dann alle vier Bücher gelesen haben sollte, wird man kaum etwas verstehen und todsicher um den Trost vollständiger Aufklärung gebracht werden, so wie jeder der Romane eine Aufklärung verweigert. Denn das Böse verharrt, und Yorkshire ist bei Peace die Hölle auf Erden. Alle Frauen sind potenzielle Opfer – und die meisten werden eins. Alle Männer sind potenzielle Täter – und werden irgendwann einer: ein Mörder, ein Schläger, ein Vergewaltiger, egal. Es gibt keine Guten. Auch nicht unter den Ich-Erzählern.
Einen Peace-Roman nachzuerzählen würde bedeuten, ihn zu trivialisieren – eine Handlung im üblichen Sinn gibt es nicht. In „1974“ werden kleine Mädchen grausam ermordet; in „1977“ stehen zum ersten Mal die „Ripper“-Morde im Zentrum. Ihre Spannung beziehen Peace’ Romane jedoch nicht aus der allmählichen Auflösung der Fälle, sondern aus dem so fortschreitenden wie unaufhaltsamen Untergang und der Ambivalenz ihrer männlichen Protagonisten: ein junger Gerichtsreporter in „1974“; in „1977“ ein Polizist und ein Journalist.
Doch auch der Terminus „Ich-Erzähler“ ist irreführend, denn – außer vielleicht dem alternden Journalisten Jack Whitehead in „1977“ – macht kaum eine der Ich-Figuren Anstalten, tatsächlich zu erzählen, also die Dinge auf eine Art und Weise wiederzugeben, die die Leser mit Hintergrundinformationen versorgen würde. Kein Off-Text, nirgends. Mit Namen, Ereignissen, Andeutungen wird um sich geworfen, als sei man schon immer dabei gewesen. Das verwirrt enorm, steigert aber auch das Gefühl der Unmittelbarkeit und zeigt nicht zuletzt die Unreflektiertheit dieser Ich-Figuren, die sich anscheinend willenlos einer Art stream of consciousness überlassen und dadurch kaum in der Lage sind, dem Bösen in sich selbst zu widerstehen. So enden sie, Mitleid und Furcht erregend, in der Regel als Täter und Opfer zugleich. Echt finster.
Peace’ Romane enthalten seitenweise detaillierte Beschreibungen so ungefähr jeder Art von Gewaltakten, die Menschen sich gegenseitig antun können. Daher muss es eher schwer fallen, diese so genial rhythmisierte, pulsierende, expressive Prosa vorbehaltlos zu empfehlen. Man kann zwar eine gewisse Übung darin entwickeln, manche Passagen einfach diagonal oder gar nicht zu lesen. Das hilft allerdings nur punktuell. Dem großen, alles verschlingenden Schmerz, der in den Eingeweiden dieser Bücher wütet, entkommt man dadurch nicht. KATHARINA GRANZIN
David Peace: „1977“. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2006, 396 Seiten, 22 Euro