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Archiv-Artikel

bücher für randgruppen Das Scheitern der letzten Goethes

Ein hartes Los, Enkel eines berühmten Dichters wie Johann Wolfgang von Goethe zu sein. Je toter Goethe, desto größer wuchs sein Schatten. Goethe-Kennerin Dagmar von Gerstorff vermittelt in Form einer biografischen Erzählung einen angenehm lesbaren Eindruck dieser schweren Bürde. Da ist die lebenshungrige und immer auf der Suche nach einer großen Liebe befindliche Ottilie. Unglücklich verheiratet mit dem drögen Goethe-Sohn August, entstehen aus dieser Verbindung drei Enkel: Wolfgang, Walther und die im Alter von 16 Jahren verstorbene Alma. Die beiden verbliebenen Goethe-Enkel waren offensichtlich schwul. Neben ihrer relativen Erfolglosigkeit als Künstler wohl auch ein Grund, weshalb sich bisher niemand so recht an eine Biografie der Goethe-Nachkommenschaft gewagt hat. Auf dem Grabstein von Walther steht: „Mit ihm erlosch Goethes Geschlecht.“ Sehr komisch.

Die wilden Amouren Walther von Goethes mit seinen Liebhabern Romeo Seligmann, Robert Schumann und anderen sind gewiss pikant. Sie mussten bis ins Jahr 2008 warten, um aseptischen Goethe-Freunden relativ unschlüpfrig und „sachlich“ erzählt werden zu können. „Selbst dem Dichter H. C. Andersen, der in Weimar weilte, ist die außerordentlich enge Beziehung zwischen dem Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar und Walther nicht entgangen“, munkelt Dagmar von Gerstorff. Sie schildert das Leben der drei Goethe-Nachkommen fürsorglich, verschweigt dabei nicht die Gründe, die andere wohl daran hinderte, sich hemmungslos dem Nachwuchs Goethes zu widmen. Trotzdem wirken ihre Worte zuweilen betulich. So, wenn sie Walther, den sich „lüstern gebenden“ Liebhaber von Robert Schumann, als „homophil“ bezeichnet. Wesentlich zeitgemäßer klingt da ihre Übersetzung der Todesursache von Großvater Goethe: Die „Brustschmerzen“ werden modernisiert zum neuzeitlichen „Herzinfarkt“. In der alten Todesanzeige übrigens „Stickfluss in Folge eines nervös gewordenen Katharrfiebers“.

Völlig absurd sind dagegen ihre psychologischen Erklärungsmuster, das unstete, „nicht verantwortungsvolle Verhalten“ von Mutter Ottilie hätte sich beim „empfindlichen Walther“ verheerend ausgewirkt: „Eine lebenslange Scheu vor Frauen und Angst vor weiblicher Sexualität haben ihn nie mehr verlassen.“ Mutti ist mal wieder schuld! Die Domina Ottilie macht ihrem sensiblen Sohn Angst, so wird er schwul. Zudem lässt Gerstorffs Schilderung von Robert Schumann, der, wie sie betont, sieben Jahre älter als Walther war und dessen „verborgene Anlagen entdeckte und weckte“, das überkommene Bild „homosexueller Verführung“ wiederaufleben.

Bruder Wolfgang dissertiert derweil über die Weissagung einer etruskischen Nymphe, die mit Naturkatastrophen droht, falls die Menschen ihr Land veränderten. Sein Märchendrama „Erlinde“ erinnere sehr an den „Erlkönig“, weiß Gerstorff. Auch Walthers Karriere als Opernkomponist und Autor scheitert kläglich. Doch sorgt der Enkel immerhin dafür, dass Großvaters Erbe nicht in alle Einzelteile verweht wird. Dass Mutter Ottilie eine Zeitschrift namens Chaos herausgibt, passt gut ins Bild. Ob Ottilie ohne ihren sanften Sohn Walther wohl das ganze Mobiliar des Goethe-Hauses mitsamt der wertvollen Kunst- und Gemmensammlung ihren Liebhabern hinterhergeschmissen hätte? Wir werden es wohl nie erfahren. WOLFGANG MÜLLER

Dagmar von Gersdorff: „Goethes Enkel“. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2008, 286 Seiten, 19,80 Euro Der Autor dieser Kolumne ist Präsident der Walther von Goethe Foundation