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Archiv-Artikel

bücher für randgruppen Zeitschriftenbücher

Eine Zeitschrift wird zum Buch, wenn sie ein gewisses Volumen aufweist und als kunstvolles Einzelexemplar thematisch sortiert in der Bücherecke verstaut werden kann. Einige Ausgaben von Volksfoto und Monochrom haben das geschafft. Nun, da Berlin als Thema im Januar von Monopol und im März von Texte zur Kunst entdeckt worden ist, stellt sich die Frage: Schaffen es auch diese Zeitschriften von der Ablage ins Regal? In Monopol wird das Westberlin der frühen Achtzigerjahre auf dem Titelbild durch „unbekannte Fotografien“ der Fotografin E. M. Ocherbauer dokumentiert. Aktion, Performance und Musik nehmen nun den Stellenwert in der Kunst ein, den dort seinerzeit die „wilde Malerei“ beanspruchte. Wurde ja auch Zeit. Ein im neoexpressionistischen Stil gemalter Punk von Fetting sah schon nach seiner Fertigstellung damals reichlich altmodisch bis albern aus. Gegen die künstlerische Energie einer Party mit dreißig Kurzperformances in legendären Orten wie dem SO 36 und Frontkino konnte diese Malerei eh nicht ankommen. Doch der konservative Kunstbetrieb der geteilten Stadt liebte seinen gemalten Realismus, im Osten wie im Westen – und so muss jetzt, wo auch Ausschank, DJs und Bars zur Kunst zählen, das Alte aus den Achtzigerjahren neu entdeckt und dokumentiert werden. Dennoch prima beschrieben und gemacht.

In der Märzausgabe von Texte zur Kunst diskutieren fünf junge Neuberliner, Künstler und Kritiker unter der Leitung von Isabelle Graw unter der Überschrift „Was machen wir hier?“ mit ernsten Mienen über ihre Motivationen, Stimmungen und Gefühle, die sie zum Umzug in die Metropole veranlasst haben. Nein, das zu lesen macht irgendwie keine rechte Freude. Aufbruchstimmung ist nicht zu vernehmen. Da klingt eine große Wehmut durch und eine Rechtfertigung, den Umzug in das fremde Berlin doch noch durchgezogen zu haben. Hier nun wieder die gleichen Zirkel zu etablieren, die gleichen Ausschlussverfahren zu initiieren und gleichzeitig in der Masse unterschiedlichster Szenen zu bestehen, das ist bestimmt nicht verlockend. Wahrscheinlich wäre das alles nicht so schlimm, „wenn man es geschafft hat, ein wirkliches Individuum zu sein“, wie Autor Groetz glaubt. Er hat als Motor seines späten Umzugs aus der Provinz gerade die innovative Kraft der „Galerie Maschenmode“ entdeckt. Irgendwann wird den Diskutanten ein bunter Papagei erscheinen und sie in das „Versprechen des Nachtlebens“ schicken – nämlich in die Berliner Clubs und Bars zum Trinken oder abgesichert in ein Lehramt. Die Welt des ironiefreien, unsinnlichen Kunstgesprächs scheint vor allem interessant für die Freunde und Freundinnen der Theorie, die sich ihr Sprachrevier mühsam erkämpft haben – und nicht mehr davon loslassen.

Es bleibt also dabei: Die schönste Kunstzeitschrift ist noch immer die Zeitschrift für Alles des 1998 verstorbenen Dieter Roth. Alles wurde gedruckt – die Zeitschrift ging mit Nummer 10 aufgrund der zahlreichen Einsendungen ein –, dick wie eine Lutherbibel und unfinanzierbar. Aktuell bietet sich der Griff zu einem Suhrkamp-Buch an, das endlich klar macht, dass wir hier alles finden, was uns sonst so schmerzlich fehlt: „Einen Leseabgewöhnungskurs ohne Reue!“ Roths Texte sind feinstes Sprachwerk, was seinerzeit nur Oswald Wiener, Renate Matthaei, Barbara Wien und ein paar Versprengte zu schätzen wussten. Und da diese wunderbaren, anregenden, geistreichen Wörter und Sätze nun erstmals ohne Roths destruktiv-kreative Kraft – er hätte den Verlag zu Lebzeiten sicher mit Sonderanfertigungswünschen überfordert – unverziert in diesem Buch vorliegen, kann der Meister endlich im genormten Cover in den Kanon der seriösen Schriftsteller aufsteigen.

WOLFGANG MÜLLER

„Texte zur Kunst“, 3/2005, 14 Euro Dieter Roth: „Da drinnen vor dem Auge“. edition suhrkamp, Frankfurt 2005, 304 Seiten, 10 Euro