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Archiv-Artikel

bernhard pötter über Kinder Traumsand im Getriebe

Der Sandmann muss gerettet werden. Das sind wir Eltern uns schuldig

Manchmal frage ich mich, wie mich meine Kinder eigentlich sehen. Als allwissenden Schriftgelehrten, der Kinderbücher entziffern kann? Als unterbezahlten Dienstleister, der ihnen Essen auf den Tisch zaubert? Als Volltrottel, der nicht versteht, dass man in heißen, hellen Nächten einfach nicht zu schlafen braucht? „Da“, sagt Anna und zeigt auf den Fernseher, „so sehen uns die Kinder.“

18.53 Uhr. Am Schluss des West-Sandmännchens, das nicht Sandmännchen heißt, sondern „Wolf und Rüffel“, erscheint in der Tür des Kinderzimmers der Arm der Mutter (des Vaters). Der ausgestreckte Arm weist ins Bad und ins Bett. Dazu nuschelt die quäkende Elternstimme im Eiltempo: „jhrgmlknngrbdlffrtstppwkdswwll!“ So sehen und hören uns also unsere Kinder.

Dieser bitteren Selbsterkenntnis will der Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) nun vielleicht ein Ende setzen. Ein neues Sendeschema soll „Wolf und Rüffel“ vertreiben. Vor allem aber den Sandmann. Den Sandmann! Neben dem grünen Rechtsabbiegerpfeil das einzige Überbleibsel der DDR, das auch im Westen Karriere gemacht hat. Jeden Abend kommt der Ho-Chi-Minh-Zickenbart mit dem Barkas in die Plattensiedlung, steuert sein Motorboot über den See zum Kinderferienobjekt, das von jungen und alten Pionieren wimmelt, oder fliegt ganz nachwendig mit der Rakete ins nichtsozialistische Ausland. Und er bringt uns Geschichten vom kleinen König, von Miffy oder von Frederik und Piggeldy. Und wenn es ganz DDR-retro wird, sogar von Schnatterinchen, Herrn Fuchs und Frau Elster.

Das soll nun vorbei sein? Da wird sich die neue Intendantin des RBB, Dagmar Reim, aber umsehen. Schon jetzt rollt die Soliwelle mit dem fellbemützten Kobold durch ganz Deutschland. Der Bildungsminister von Brandenburg tremoliert, Herr Sandmann stehe schließlich für Heimat und für Vertrautheit mit der Region (er kann nur die Pionier-Ferienlager meinen). Und die CSU droht damit, dem Sandmann notfalls beim Bayerischen Rundfunk Asyl zu gewähren.

Die Demontage des populären Einschlafbeauftragten passt in den Trend: In der ARD wird die „Sesamstraße“ auf morgens halb acht verlegt. Das ist wohl ein Konjunkturprogramm für die Videorecorderindustrie. Und auch das ZDF vergeht sich an den Traditionen, mit denen wir aufgewachsen sind: Die Mainzelmännchen werden neu getunt – jünger, schlanker und fitter sollen sie werden, und es sollen sogar Mädchen mitmachen. Ist denn gar nichts mehr heilig?

Seien wir mal ehrlich: Die Kinder interessieren Sandmann, „Sesamstraße“ und Sendermaskottchen eigentlich nicht die Bohne. Hauptsache, es flimmert. Wehe, ich lande bei der Zappsuche nach dem Sandmann und seinen Verwandten bei „Brisant“ oder bei CNN, die Bilder von Unfällen, Explosionen oder dem neuesten Krieg zeigen: „Das will ich gucken!“, schreit Jonas, dem der kleine König plötzlich völlig unwichtig ist. Und für Tina ist ohnehin egal, was da läuft. Hauptsache, sie kann direkt vor dem Fernseher stehen und die ganze Familie zum Schreien bringen: „Geh da weg!“

Nein, nein, liebe Eltern, die bittere Wahrheit ist doch: Sandmann und Kermit gibt es nicht für den Nachwuchs, sondern für uns. Wie die elektrische Eisenbahn, die wir Männer immer wollten. Wie die niedlichen Kleidchen und Haarspangen, die unsere Frauen selbst nie anziehen würden. Wie die Familienpackung Walnußeis, die uns das kalorienbewusste Denken verbieten würde. Die Zielgruppe sind wir – oder meinen Sie, „Drei Engel für Charlie“, „Biene Maja“ und „Flipper“ würden wiederholt, weil unsere Kinder sie sehen wollen? Sandmann und „Sesamstraße“ schauen wir, weil sie uns an unsere Kindheit erinnern. Weil wir unserer Fantasie mit den Gutenachtgeschichten mal eine Pause gönnen können. Und weil wir endlich mal den Plot verstehen, ohne dauernd nachzufragen. (Und deswegen hassen wir die Teletubbies: Die gab es in unserer Jugend noch nicht. Sie strapazieren die Fantasie, weil man sich dauernd fragt, was passiert. Und man versteht es trotzdem nicht.)

Wer daran rührt, Frau Reim, der kriegt Probleme. Wann gab es im Osten nach dem 17. Juni 1953 den nächsten Volksaufstand? Nicht beim Mauerbau. Nicht, als die Chemiefabriken die Menschen vergifteten. Nicht, als nach der Wende alle arbeitslos wurden. Sondern bei der geplanten Abwicklung des „Sandmännchens“ 1991/92.

„Wir brauchen den Sandmann dringend“, sagt Anna. Wir, das heißt: wir beide. Jonas jedenfalls hat begriffen, dass den Helden seiner Eltern nicht zu trauen ist. Was macht mein Sohn, wenn der Sandmann auf der Mattscheibe seinen Sand in die Kinderaugen streut, damit sie auch gut schlafen und was Schönes träumen? Er hält sich die Augen zu.

Fragen zum Sandmann?kolumne@taz.de