berliner Platten : Zweimal Reggae aus der Hauptstadt
Zuerst einmal scheint alles ganz einfach: Nosliw und Boundzound, das ist zweimal Reggae aus Berlin. Aber Berlin ist groß und Reggae gewachsen in den letzten Jahren. Schnell wird klar: Die beiden haben weniger gemeinsam als erwartet. Deutsches im Offbeat ist kein einheitliches Genre mehr, und diese beiden repräsentieren die entgegengesetzten Enden eines weit gefassten Spektrums.
Nosliw, als Eric Wilson geboren in der ehemaligen Hauptstadt und nun wohnhaft in der aktuellen, huldigt auf seinem zweiten Album „Mehr davon“ der alten Schule. Sein Rootsreggae ist zwar bisweilen elektronisch programmiert, aber rekapituliert erfolgreich die goldenen Zeiten des Genres. Als wären Peter Tosh und Bob Marley noch quicklebendig, geht es meistenteils mittelschnell dahin in einem kifferkombatiblen Rhythmus, unterstützt von gemütlichen Gitarrenriffs und verträumten Bläsereinlagen. So viel butterweiche Kuscheligkeit war selten. Die musikalischen Entwicklungen auf Jamaika der letzten Jahrzehnte mag Nosliw verschlafen haben. Vielleicht ja darum: „Wir brauchen gutes Bier, guten Rum, gutes Gras“, beschwört er in „Immer wieder hören“ die heilige Dreifaltigkeit. Neben Rauschmitteln geht es – im Duett mit Branchenprimus Gentleman – auch um die „Liebe“, ums Verlassenwordensein („Allerletzte Chance“) und schnellen Sex („Kurz allein sein“). Aber nicht nur: In „Es hat sich nichts geändert“ gelingt es Nosliw, die jamaikanischen Sommersonnenseligkeit mal zugunsten der korrekten Sache einzuspannen. Dabei gerät die Gesellschaftskritik überraschend akkurat: „Wir wurden schon von Kindesbeinen an konditioniert Geld zu verbrennen, damit die Wirtschaft weiter expandiert“. Die Überraschung ist, dass man solche Parolen tatsächlich zu einem Reggae-Rhythmus singen kann, ohne peinlich zu werden.
Unser zweiter Kandidat dagegen singt vorzugsweise Englisch, sein Reggae beschränkt sich nicht auf die klassischen Vorgaben, und eindeutige politische Aussagen sucht man vergeblich. Demba Nabé, geboren 1972 in Buch, Mutter Deutsche, Vater aus Guinea, nennt sich heute „Ear“ als einer von drei Rappern/Tänzern/Sängern bei Seeed und hat nun das erste Album seines lange schon schwelenden Projekts Boundzound herausgebracht. Hier ist der Reggae nur mehr lose Vorgabe, kleinster gemeinsamer Nenner, in der alle aktuellen Spielarten wie Dancehall, Dub und sogar Reggaeton Widerhall finden. Aber nicht nur: Genauso Soul, Jazz und R&B, Techno und Electronica, Disco-Falsett-Gesänge aus den Seventies und ein bisschen Naher Osten in „Airport“. All das versöhnt Boundzound wie selbstverständlich zu einem schier unglaublich entspannten Soundtrack, der fürchterlich geschmackvoll und nach allen Seiten abgesichert ist. Aber, und das ist kaum zu fassen, halt auch noch unglaublich gut klingt. Sollte irgendjemand auf die absurde Idee kommen, den im Archiv versenkten Begriff „multikulturelle Gesellschaft“ zu vertonen, kann er sich die Mühe sparen: Es gibt ja schon „Boundzound“. Und das ist ziemlich prima so. THOMAS WINKLER
Nosliw: „Mehr davon“ (Rootdown/Soulfood), live 19. 5., Frannz Boundzound: „Boundzound“ (Island/Universal), live 10. 5., Postbahnhof