barbara bollwahn - Rotkäppchen : Mitropa, einig Vaterland
Auf dem Flughafen von Madrid und in Guatemala-City ist die DDR durchaus noch präsent
Von wegen Reisefreiheit! Es war der 2. Oktober, und ich stand an einem Schalter der Iberia auf dem Flughafen von Madrid, um mich für den Flug nach Guatemala via Miami einzuchecken. Nachdem die Señora mein Ticket inspiziert hatte, guckte sie mich streng an und sagte: „Ihr Visum, bitte!“ Ich dachte, mich verhört zu haben. „Wie bitte?“, fragte ich. „Sie fliegen über Miami, also brauchen Sie ein Visum“, erklärte sie mir genervt. Ich verstand nur Bahnhof. Weil sie mir das ansah, holte sie etwas aus. „Seit dem 1. Oktober gibt es ein neues Gesetz, nach dem Sie ein Visum brauchen, wenn Sie Zwischenstopp in den USA machen. Oder einen neuen Pass mit den entsprechenden Sicherheitsmerkmalen.“ Meinen schönen roten Reisepass weggeben? Niemals! Erst recht nicht am Vortag des Tages der Wiedervereinigung.
Verwundert fragte ich mich, wieso ich von diesem ominösen Gesetz nichts mitbekommen hatte. Die einzige Erklärung, die ich fand, war die, dass ich in den Tagen und Nächten vor dem Abflug Besseres zu tun gehabt hatte, als mich um den Sicherheitswahn der Amerikaner zu kümmern.
Da stand ich nun auf dem Madrider Flughafen mit meinem tollen Pass und kam nicht weg. Da ich schlecht sagen konnte, dass ich aus dem Osten komme und deshalb nicht auf dem Laufenden bin, beschloss ich, eine Flugroute zu suchen, die einen weiten Bogen um die USA macht. Ganz wie früher, bloß keinen Kontakt mit den bösen Amerikanern.
Als ich einem Señor von Iberia mein Problem erklärte, schaute der mich verwundert an. „Señorita“, sagte er, „Sie brauchen kein Visum.“ Ich fühlte mich verarscht und erklärte dem Señor, dass seine Kollegin am gegenüberliegenden Schalter genau das Gegenteil behauptet. Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein, das stimmt nicht“, sagte er. „Gehen Sie rüber und sagen Sie der Señora, dass Sie kein Visum brauchen.“ Ich fand es ziemlich albern, zwischen den Schaltern hin- und herzurennen und Nachrichten zu überbringen. Aber so hatte ich wenigstens das Gefühl voranzukommen, wenn auch nur schleppend. Die Señora bestand weiterhin auf einem Visum. Als ich ihr sagte, dass entweder Sie oder ihr Kollege auf dem falschen Dampfer ist, griff sie genervt zum Telefonhörer. Keine Ahnung, mit wem sie gesprochen hat. Auf jeden Fall hat sie eine Auskunft bekommen, die sowohl ihr als auch ihrem Kollegen Recht gab. Das neue Gesetz war in der Tat für den 1. Oktober geplant, wird aber erst Anfang nächsten Jahres in Kraft treten.
So durfte ich also nach Miami fliegen. Waren die Montagsdemonstrationen doch nicht umsonst gewesen. Ich machte mich auf verschärfte Kontrollen gefasst und wurde wahnsinnig enttäuscht. Keine Leibesvisitationen, keine Lügendetektoren, keine Verhöre über meine sozialistische Vergangenheit. Lediglich meine Schuhe musste ich vor einer Sicherheitsschleuse ausziehen, während mich ein übergewichtiger Sicherheitsfritze von oben bis unten musterte und durchwinkte.
Während ich auf den Anschlussflieger wartete, kam ich mit einem Mann ins Gespräch, der die Wartehalle fegte. Er stellte sich als „Jeffrey aus Nikaragua“ vor. Als er mich fragte, woher ich komme, antwortete ich wahrheitsgetreu: „Aus Deutschland, aus der ehemaligen DDR.“ Überrascht schaute er mich an. „Aus der DDR?“, fragte er, stellte seinen Besen beiseite und erzählte, dass Freunde von ihm in der DDR studiert hätten. Mir fielen die vielen Soliaktionen ein, als wir – als Junge Pioniere verkleidet – Altpapier und Flaschen sammelten und den Erlös nach Nikaragua schickten. Statt mir für diese Aufopferung zu danken, verfinsterte sich das Gesicht von Jeffrey. „Die Menschen dort haben wie Tiere gelebt, jahrelang eingesperrt in einem Käfig“, schimpfte er.
Da die Käfigtüren seit Jahren offen sind, kam ich schließlich am 3. Oktober in Guatemala-City an. Mein ehemaliger Spanischlehrer Raúl holte mich vom Flughafen ab. Das Erste, was er sagte, war: „Barbariña, heute feiern wir Wiedervereinigung.“ Behilflich dabei waren uns drei Flaschen Rotwein. Bei der ersten Flasche wollte er wissen, ob es das Wort prima noch gibt, das für ihn typisch ostdeutsch sei. Bei der zweiten Flasche fiel ihm die Mitropa ein. Er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen und erzählte, dass es für ihn immer wie „eine süße Ohrfeige“ geklungen habe. Bei der dritten Flasche meinte Raúl, es sei Zeit für die DDR-Nationalhymne. Doch weil darin weder das Wort prima noch die Mitropa vorkommen, geriet er schnell ins Stocken. Und auch ich konnte ihm nicht helfen, denn schließlich war das Singen des Textes wegen Worten wie „Deutschland, einig Vaterland“ seit Anfang der Siebzigerjahre verboten gewesen. „Mitropa, prima Vaterland“, dichteten wir schließlich.
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