ausstellung wilhelmstraße : Der Blick hinter die aufklappbare Fassade
Menschen drängen sich auf dem Bürgersteig der Wilhelmstraße, vereinzelt laufen Passanten über die Straße, einige stehen direkt am Metallzaun vor dem Reichspräsidentenpalais auf der linken Seite. Viele blicken hinüber zu dem Gebäude mit der Hausnummer 73. Dort hat Reichspräsident Friedrich Ebert gearbeitet. Die Fahne auf dem Palais weht auf Halbmast: Es ist der 28. Februar 1925, Ebert ist heute gestorben.
Bei der Szene handelt es sich um eine alte Fotografie – die riesige Bildtafel wirkt aber so lebendig, dass sie den Betrachter mitnimmt auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. Das Foto steht am Anfang der neuen Ausstellung „Die Wilhelmstraße – Regierungsviertel im Wandel“, die auf dem Gelände der Stiftung Topographie des Terrors zu sehen ist.
Die Geschichte der Straße beginnt im 19. Jahrhundert, als die Wilhelmstraße noch eine vornehme Wohngegend war. Seit Gründung des Deutschen Reiches 1871 stieg dann die politische Bedeutung der Wilhelmstraße, im Gebäude mit der Nummer 72 tagte der Bundesrat, seit 1919 residierte der Reichspräsident im benachbarten Palais. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf der Zeit von 1933 bis 1945 – also der Herrschaft der Nationalsozialisten.
Große Tafeln, auf denen die Häuserfassaden zusammen mit den Hausnummern abgebildet sind, sorgen für die Illusion, tatsächlich einen Spaziergang in der Vergangenheit zu unternehmen. Allerdings liegen alle Foto-Häuser auf derselben Seite, lediglich eine farbige Markierung weist darauf hin, auf welcher Straßenseite das reale Gebäude stand oder noch steht – von Unter den Linden aus gesehen bedeutet Blau rechts, Orange links. So kommt man am Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft auf der rechten Straßenseite vorbei, im Jahr 1920 – aus dieser Zeit stammt das Bild. Die Fassade lässt sich aufklappen, auf der Rückseite der Tafel gibt es weitere Informationen.
1933 übernahm „Reichsbauernführer“ Richard Walther Darré das Ministerium. Der nationalsozialistische Agrartheoretiker leitete außerdem das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und sah den Bauernstand als den Kern der neuen „Herrenrasse“. Das Gebäude des Ministeriums wurde am Kriegsende zerstört und 1962 abgerissen, das Grundstück blieb vorerst unbebaut. Später errichtete die DDR dort Plattenbauten, heute ist der frühere Garten des Ministeriums Teil des Denkmals für die ermordeten Juden Europas.
Der weitere Weg führt zum Wilhelmplatz auf der rechten Seite und vorbei am Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda im Jahr 1934. Das Gebäude fällt auf den ersten Blick durch seinen auffallend gestalteten Eingangsbereich mit einem großen, von Säulen getragenen Balkon auf. Was sich hinter der Fassade abspielte, bleibt selbst dann unvorstellbar, wenn man die Tafel aufklappt und nachliest. Von dort aus kontrollierte Propagandaminister Joseph Goebbels die gesamte Presse und Kunstszene – abweichendes Verhalten wurde bestraft, im schlimmsten Fall mit Inhaftierung in einem Konzentrationslager. Goebbels’ Ministerium war auch für die Inszenierung von Massenaufmärschen und die Manipulation der Bevölkerung zuständig. Angesichts dieser Informationen ist man froh, schließlich wieder in die Gegenwart zurückkehren zu können, in der die erhaltenen Gebäudeteile einem wesentlich friedlicheren Zweck dienen: Dort sind einige Dienststellen des Ministeriums für Arbeit und Soziales untergebracht. JENS GRÄBER