ausgehen und rumstehen : Der Anruf der Asketin
Warum ich mein Wochenende in Brandenburg verbringen sollte, war mir unklar. „Gene checken!“, erklärte die kinderlose und einen Erzeuger für ihr Wunschkind suchende Freundin. Die Betonung liegt auf „Kind“, denn zwei Kinder sind ihr bereits zu viel.
Mit 26 – so ihre feste Überzeugung – sei sie kurz davor, „keenen mehr abzukriegen“. Lange Beine müsse er haben. Nichtraucher sollte er sein und verbotenen Substanzen jeglicher Art abhold. Weshalb sie anhand eines solchen Anforderungsprofils seit Ewigkeiten durch die Clubs der Hauptstadt tingelt, gehört eher in die Kategorie: Perfer et obdura, multo graviora tulisti – Ertrage und harre aus, viel Schweres hast du schon ertragen! Ihr Menschheitsbild muss bizarr sein, führt sie uns doch fast jede Nacht bis in die Puppen durch die Straßen und Häuser der Stadt, ohne dass ihr jemals ein Tropfen Alkohol durch die Kehle rinnt oder Zigarettenqualm aus den Nasenlöchern dringt. Selbstverständlich lebt sie vegan.
Am nächsten Morgen ist man meist froh, die Objekte oder Menschen, die man so gesehen hatte, nur mehr undeutlich vor Augen zu haben – bis der Anruf der Asketin den verschwommenen Bildern wieder zu neuer Klarheit verhilft. Man erfährt dann, dass man bei Burger King über den Tresen gesprungen sei, eine Palette ungebackener Burgerbrötchen stahl, um sie vor der Weltzeituhr an Punks zu verteilen. Oder, dass sich bei der gestern besuchten Open-Air-Party morgens um neun jemand als Vogel fühlte und von der vierten Etage eines Baugerüsts springen wollte – bis er vom Türsteher mit den Worten: „Wenn du springst, kriegst du die Tracht Prügel deines Lebens“ zur Aufgabe überredet wurde. Obwohl man selbst dabei war, sind die vielen kleinen Details, die sie zu berichten weiß, sehr erstaunlich.
Nun ist sie also zu der Überzeugung gelangt, dass sie Mutter werden muss, und dafür fährt man auch mal bis nach Brandenburg, alte Freunde und (vielleicht) neue Bekannte treffen. Als wir ankommen, raucht der Grill schon das ganze Dorf zu, und von den sieben vorhandenen Bierkästen sind drei bereits geleert. Nach der kurzen Begrüßungszeremonie stehe ich relativ verloren rum, bis jemand sich erbarmt und mir von seinem Urlaub auf den Balearen berichtet.
Als er nach über zehn Minuten auf seinen, auf der spanischen Insel erworbenen, Sonnenbrand zu sprechen kommt (O-Ton: „Ja, leck mich fett, ich glaub, mir brennt der Helm!“), beschließe ich die Flucht nach vorn anzutreten. Mit der Bemerkung: „Und ich dachte immer, Brandenburger Jugendliche fahren nur an den Baum!“ versuche ich, Leben in das einseitige Gespräch zu bringen und scheitere kläglich. Fortan meidet mich sogar der Dorftrottel – der mir genau so vorgestellt wurde – und ich beobachte nur noch, während alle anderen die Biervorräte plündern.
Einige Anwesende scheinen interessanter zu sein als andere, kommen jedoch nicht zu Wort, wieder andere tun Dinge, von denen man gar nichts wissen möchte, berichten darüber allerdings ausführlich und freizügig. Ich stelle mir vor, wie grausam es für die Gedankenschwangere sein muss, uns seit Jahren zu beobachten und alles Abspeichern zu können, was wir in unserer Feierlaune so verzapfen. Wir sind zwar alle keine Flatratesäufer – aber so richtig trocken eben auch nicht.
Auf dem Rückweg nach Berlin mache ich mein erstes Bier auf und frage sie, ob sich unser Benehmen und das der Brandenburger ähneln würde. Sie behauptet einen leichten Niveauunterschied herausgehört zu haben. Zu wessen Gunsten, hab ich vergessen zu fragen. Einen potenziellen Vater hat sie übrigens nicht gefunden. Für Interessenten: Auf ihrer Must-have-Liste stehen lange Beine an erster Stelle. JURI STERNBURG