ausgehen und rumstehen : Erotik ist ein stummer Schrei
Ein eisiger Winterwind fegt Glitzerflocken vom Görlitzer Park herüber, Minus25 und ihr Begleiter R. erschaudern bitterlich. „Heute Nacht wird geschillert“, so will es das platonische Paar. Und wo kann man das am sündigsten? Natürlich im Club Culture Houze (CCH)! Ist der Lustgarten doch am Sonntagabend exklusiv für Adam&Eve reserviert. Der Eintritt ist mit zehn Euro pro Paar moderat und die Drinks rutschen ohne lästiges Kleingeld-Berappeln über den Tresen. Erst am frühen Montagmorgen wird der Deckel beglichen. Und am Montagmittag die Nacht mit einem schweren Kater bezahlt.
Der CCH ist eine Klingel-Bar und Minus25 lernt: Sie muss höflich schellen, dann öffnet Hausdame Angela die Tür und bittet – sofern der erotische Dresscode erfüllt ist – herein, nimmt der steifgefrorenen Minus25 den goldenen Fuchsmantel ab, verwahrt ihr silbernes Täschchen. Der CCH ist ein Kreuzberger Sündenpfuhl mit diskreter Eingangskontrolle. Sie tragen einen roten Büstenhalter? Na dann.
Angela ist an jedem heiligen Sonntag tuffige Übermutti der Bar. Die über 50-Jährige mit der Sekretärinnenbrille ist Erotikparty-Frischlingen dabei behilflich, die ersten Hemmungen zu überwinden. Von der wasserstoffblonden Welle bis unter die Netzbluse (darunter ein gar nicht biederer blanker Busen) ist die Hausdame auf Service eingestellt. Angelas flötet „Ihr Lieben, legt doch ab“ – und stößt bei Minus25 auf knallharten Granit. Denn die hat sich vorgenommen: die Contenance bewahren um jeden Preis. Sie nimmt am Tresen Platz und starrt auf die schillernden Eiswürfel in ihrem neongrünen Gin Tonic.
„Spießig“ findet R. die Wohnzimmeratmosphäre des CCH und meint wohl den filzigen Teppich und die ältlichen Herren, die sich zur Konversation bei Angela eingefunden haben. Im Hinterzimmer lassen sich einige von ihnen … na ja. Minus25 hat schon einiges in ihrem Leben gesehen – das aber noch nicht. Ist der Filz wohl fleckig? Auf dem Tresen jedenfalls: gratis Weingummis und gratis Obst-Schiffchen. „Fehlt nur noch der Käse-Igel“, bemängelt Minus25 und greift beherzt zu. Überall in der Bar laufen schaumige Pornos. „Überall wird man belästigt“, findet R. und träumt davon, Angela von hinten um die Taille zu fassen.
Minus25 träumt von gar nichts. Sie ist froh, einen Kumpel zu haben, mit dem sie zu Recherchezwecken mal in ein derartig verruchtes Etablissement gehen kann, und stopft sich – für eine gute Reportage muss man ja sehen, hören, schmecken – Orangenbonbons ins grellgeschminkte Mündchen.
Minus25 wagt es kaum, den Blick zu heben. Was sie erkennen kann: In den sündigen Gemächern hängen Ledergeschirre von der Decke und neben ihr am Tresen hängen Männer – ebenfalls in Ledergeschirren. Typen mit Ponyhalftern um die Brust also, die sich – sofern sie denn rein hypothetisch eine passende Begleitung hätten – in den Séparées gerne öffentlich wälzen würden. Denn so ist es im CCH eigentlich vorgesehen. Minus25 fühlt sich bedrängt und ist nahe dran, einen ihrer berühmten Panikanfälle zu bekommen, wie sie ihn gerne bekommt, wenn Angstfantasien im Epizentrum der Emotionen zu einem toxischen Schaum aufquellen. „Hallo“, haucht neben ihr ein nietenbesetzter Bär. „Lass mich!“, detoniert Minus25 und hebt abwehrend die Tatze.
Sie starrt auf die Eiswürfel in ihrem Drink, die langsam schmelzen und – der CCH ist eine Rotlicht-Bar – farbig schimmern. Mit ihrem Strohhalm rührt sie hastig um, die Eiswürfel drehen sich, und plötzlich spiegelt im Drink, am Boden des Glases, ein Bild auf. Der Bär hat eindeutige Ambitionen.
Und in ihrem Drink? Brüllt Der Schrei von Edvard Munch. SASKIA VOGEL