ausgehen und rumstehen : Der diskrete Charme bürgerlicher Geschmacksüberlegenheit: Sale bei Murkudis
Martin Margiela hat Patchworkjeans entworfen, die auf den ersten Blick nach trotziger Neuköllner Distinktionsverweigerung aussehen, und rüstungsartige Tops aus Ledergurten, die lauthals „Darkroom“ brüllen. Aber Margiela liebt es auch, sich bis zur Identitätslosigkeit an klassische Dezenz heranzuarbeiten. Viele seiner Strickpullover sehen aus wie von Benetton (okay, okay, oder wie von März), nur als Edelteil an den vier kleinen Fäden, im Rechteck angeordnet, auf Schulterblatthöhe zu erkennen.
Wenn Andreas Murkudis über seine Lieblingskunden-Mailingliste zu einem Sale lädt, bei dem alle Teile zu handverlesenen 50 % angeboten werden, dann defiliert die Kundenschar bestimmt nicht wegen der Patchworkjeans oder der Darkroom-Tops die Treppe in den dritten Stock des hochherrschaftlichen, aber leicht patinierten Eckgebäudes hinauf. Augen zu und vorbei am Diesel-Flagshipstore, dann in den ersten Stock auf Höhe des Münzclubs, dem Privatclub für Rechtsanwälte aus dem Berliner Westen, die sich nicht immer nur gegenseitig angähnen wollen und deshalb Ostberlins Halligalli-Jugend zum Loungen am Kamin bitten. Jetzt aufatmen und mit Contenance aufs Parkett geschlittert, auf dem die Garderobenständer mit den Teilen von Lutz, Margiela, Raf Simons, Kostas Murkudis oder Acne stehen. Die Teile, die in klassischer Dezenz schwelgen. Die Teile, zu denen man den kleinen Finger abspreizt, wenn man über Boss und René Lezard hinaus ist, weit hinaus.
Das Mini-Imperium von Andreas Murkudis in der Münzstraße aus den beiden kühl-delikaten Murkudis-Shops im versteckten Hinterhof und dem Acne- und dem Schiesser/AM3-Store rechts und links als Schildwachen an der Straßenfront ist der Hort modischer Überfeinerung. Selbst die Dreitagebärte der Verkäufer sehen aus wie aus italienischem Seidenfaden gewebt. Und nirgends in Berlin – außer vielleicht in der Galerie Neu, aber bestimmt nicht in der Bar 1000 – wird man mit so aufrichtigem Bussi begrüßt. Bei Murkudis schwebt man durch die wohlige Kultiviertheit weltbürgerlichen Understatements.
In der Sale-Wohnung herrscht die rücksichtsvolle Stimmung einer Sonntagsmatinee. Selbst das einzige Kind verhält sich gedämpft – und ist mit seiner roten Trachtenstrickjacke der einzige Farbtupfer unter dem Schwarz, Grau und Streifenblau der Erwachsenen. Ich probiere in meinem Dreißigtagebart, der aussieht wie aus einem ranzigen Flokati gerupft, eine Reiterhosen-Paraphrase von Kostas Murkudis in Beige. Sie ist zu eng. Robert Lippok von den Elektronika-Krautrockern To rococo rot hat einen Dreitagebart, der aussieht wie aus alter Sofafüllung gewebt, und entscheidet sich für einen grauen Mantel von Murkudis in einem Militärlook, auf den auch Kreuzberger Wave-Bohemians in all ihrem Renegatentum stehen würden, aber dann eben doch nicht so ganz.
Ich denke an die Patchworkjeans von Margiela und die Batikjeans von Raf by Raf Simons und daran, dass Mode auch etwas ganz anderes als der diskrete Charme bürgerlicher Geschmacksüberlegenheit sein kann. Ich spüre, wie die Beinhaare unter meinen Sockenhaltern mit der Kalbslederschlaufe jucken, blicke aus dem Fenster und höre den Schnee leise durch das Universum (…) fallen, leise herabfallen (…) wie das Nahen ihrer letzten Stunde auf alle Lebendigen und Toten. JAN JOSWIG