auf spurensuche : Durchs linke Charlottenburg
Graue Wolken hängen noch über Charlottenburg. Grau liegt auch der Kurfürstendamm da, auf dem die Passanten gleichgültig entlangströmen. Doch etwas abseits, am Eingang zur gleichnamigen U-Bahn-Station, steht ein Dutzend Menschen, um sich an ein anderes Charlottenburg zu erinnern.
Es gab eine Zeit, erklärt Jörg Zintgraf, da sah das hier anders aus. Da zogen Menschenmengen durch diese Straße und demonstrierten gegen den Vietnamkrieg. Jörg Zintgraf ist Stadtführer des Vereins Stattreisen, der auf seinen Touren ein Berlin abseits der Touristenrouten zeigt. Zum 300. Geburtstag Charlottenburgs und auf Initiative der taz geht es an diesem Dienstag auf den Spuren der 68er-Bewegung durch den Westbezirk.
Die Gruppe, darunter Studenten und echte 68er, kommt zu einer nichts sagenden Garageneinfahrt zwischen einem Imbiss und einem Internetcafé. In diesem Hinterhaus hat einst der Republikanische Klub versucht, Studenten und Arbeiter zusammenzubringen. Dass der Versuch scheiterte, lag laut Zintgraf am für die Arbeiter unverständlichen Vokabular der Studenten – und an den zu unterschiedlichen Tagesrhythmen.
Ein Porsche, der durch die Einfahrt will, drängt die Gruppe weiter, die sich leise diskutierend in Richtung Amerika Haus begibt. „Hier erinnert wirklich gar nichts mehr an eine linke Bewegung“ meint einer, auf dem Weg vorbei an Shoppingmeile und Glaspalästen.
Weiter geht’s, vorbei an der Technische Universität, dem Benno-Ohnesorg-Denkmal an der Deutschen Oper unweit seines Todesortes bis zum Bahnhof Charlottenburg. In Gedanken hängen einige noch der gewalttätigen Darstellung auf dem Denkmal nach, das zwei auf einen Studenten einprügelnde Polizisten zeigt, da macht Jörg Zintgraf auf ein unscheinbares Eckhaus aufmerksam. „Im Erdgeschoss war früher ein Nachtklub, im ersten, zweiten und vierten Stock ein Bordell. Und dazwischen“, fährt er fort, „im dritten Stock, die Wohnräume der Kommune 1.“ Heute erinnert nichts mehr an die Ur-WG. Nur der Nachtklub scheint die Zeit problemlos überstanden zu haben.
Weiter geht’s. Unterwegs erzählen die älteren Teilnehmer angeregt von ihren eigenen Erfahrungen, die sie damals gemacht haben; die jüngeren hören gespannt zu. Dort, wo die Joachim-Friedrich-Straße den Ku’damm kreuzt, steht die Gruppe vor einer Apotheke in einem tristen Betonbau. Keinem fällt etwas auf, bis Jörg Zintgraf auf eine unscheinbare Gedenktafel am Boden aufmerksam macht. An dieser Stelle wurde Rudi Dutschke am 11. April 1968 angeschossen, als er in der Apotheke Medikamente für seinen Sohn holen wollte. 1979 starb er an den Spätfolgen des Attentats. Es ist bedrückend, wie unwichtig das Denkmal wirkt. Um so deutlicher wird aber, wie wichtig solche Erinnerungstouren sind, um gegen das Vergessen anzukämpfen. NICO STORZ