al forno : Stürze, Stolperer, Schubsereien
FRANK KETTERER über einen wenig organisierten, aber schwer rasanten Tanz auf der Rasierklinge für Kamikaze-Piloten
Mit der olympischen Stimmung ist es ja nicht weit her hier bei den Spielen in Turin, weshalb heute der ultimative Geheimtipp verraten sei für all jene, die doch mal ein bisschen was erleben wollen außer leeren Rängen, nämlich dieser: Short Track. Drüben in Palavela geht es Abend für Abend jedenfalls richtig rund, und das nicht nur auf dem Oval aus Eis, sondern schon auch drumherum, manchmal hat das Ganze richtige Züge von Party: Aus den Lautsprecherboxen wummern satte Bässe, auf den steilen Tribünen, die die Halle zu einer richtigen Arena machen, tanzen und klatschen dazu die Zuschauer. Dass nicht wenige darunter Amerikaner sind und mit Stars and Stripes wedeln, passt nur zur Sportart: Short Track ist nämlich wirklich eine durch und durch verrückte Angelegenheit.
Dabei ist Short Track auf den ersten Blick durchaus mit dem Eisschnelllauf verwandt: Es findet auf einem, wenn auch kleinerem Oval aus Eis statt, und es wird auf Schlittschuhen ausgetragen. Auf den zweiten Blick hat Short Track mit Eisschnelllauf gar nichts zu tun. Was vor allem daran liegen könnte, dass nicht jeder eine Bahn für sich hat, sondern alle auf einer ihre Runden drehen müssen. Auf den kurzen Geraden mag es dabei ja noch einigermaßen friedlich zugehen, trotz aller Geschwindigkeit. In den Kurven aber kommt es meist zu ganz schönem Gedrängel, denn im Prinzip sind die Kurven viel zu eng dafür, dass vier bis sechs Mann mit einer Geschwindigkeit von rund 50 Kilometern pro Stunde unbeschadet in sie hinein und gleich auch wieder heraus rasen können. Zumal jeder Einzelne nur ein Ziel hat: Den kürzesten Weg, also den engsten Radius zu finden.
Das zu sehen, ist ein Heidenspaß, weil bei der Raserei ums Oval so ziemlich alles erlaubt ist, was die Gegner nicht direkt aus der Bahn wirft. Da Stürze und Stolperer aber eher die Regel als die Ausnahme sind, darf getrost davon ausgegangen werden, dass bisweilen schon auch unerlaubte Mittel ihren Einsatz finden. Darüber wiederum wachen drei Kampfrichter, die ihrer Arbeit in der Mitte des Ovals in Anzug und Krawatte nachgehen und all zu grobe Schubsereien mit Disqualifikation ahnden. Deshalb wird beim Short Track auch immer ein B-Finale ausgetragen, um gleich Siegerersatz bei der Hand zu haben, falls die ersten sechs disqualifiziert werden müssten.
Prellungen, Sehnenverletzungen und Knochenbrüche sind, Disqualifikationen hin oder her, dennoch keine Seltenheit, auch die mit dickem Schaumstoff ausgeschlagene Bande kann diese nicht immer verhindern. Ebenso wenig wie Helm, Nackenkrause sowie Knie- und Schienbeinschoner, die zur Kleiderordnung dazugehören. Zudem besteht der Rennanzug aus schnittfestem Material, die messerscharfen Kufen sind schließlich gerade mal einen Millimeter dünn. So gesehen ist Short Track ein echter Tanz auf der Rasierklinge. Und da ganz besonders bevorzugt von Chinesen und Südkoreanern ausgeübt, ist Short Track zudem auch eine Art Eisschnelllauf für Kamikaze.
Wobei: Manchmal gewinnt auch ein Australier, dann nämlich wenn alle vor ihm stürzen. Steven Bradbury ist das passiert, und zwar vor vier Jahren bei den Olympischen Spielen von Salt Lake City. Erst lag Bradbury im Halbfinale abgeschlagen hinten, bevor alle vor ihm Platzierten wild übereinander purzelten, dann widerfuhr ihm im Finale nochmals das gleiche Glücksgeschick. In Australien hat das für Aufregung gesorgt, und Bradbury, so hat es der hochverehrte Kollege von der Süddeutschen Zeitung recherchiert, steht jetzt down under sogar im Wörterbuch – als Synonym für Dusel.
Dass aber auch die größten Könner der Materie nicht gegen ein vorzeitiges Ausscheiden gefeit sind, musste vor ein paar Tagen Apolo Anton Ohno erfahren. Der Amerikaner ist der uneingeschränkte Star der Branche – und er gilt als der mit Abstand beste und intelligenteste Fahrer. Im Halbfinale über 1.000 Meter kam er bei einem gewagten Überholmanöver anderthalb Runden vor dem Ziel dennoch ins Stolpern, der daraus resultierende vierte Platz bedeutete das schmachvolle B-Finale. Das Selbstbewusstsein des 23-Jährigen ließ sich davon freilich nicht aus der Bahn werfen. „Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich ein großartiger Läufer bin“, ließ der Olympiasieger von Salt Lake City gleich nach seinem Aus wissen. Heute will er genau das auf der 1.000-Meter-Distanz beweisen. Drüben in Palavela wird bestimmt wieder der Teufel los sein.