Zwischen Individualismus und Kollektivismus: Peak Individualism

Vom langen und lange überfälligen Ende des westlichen Individualismus.

Radikal entfalteter Individualismus oder Holm Friebe von der Zentralen Intelligenz Agentur Bild: Anneke Hymen

von HOLM FRIEBE 

What goes up – must come down! Mit diesem ehernen Gravitationsgesetz von fast allem und jedem lassen sich moderne Mythen busten, Apokalyptiker ausbremsen und Heilspropheten auf den Teppich holen. Bäume wachsen nicht in den Himmel. Jedes lineare oder exponentielle Wachstum stößt irgendwann an seine Grenzen.

Mit Verweis auf diesen Zusammenhang cashte 1972 der Club of Rome ein, indem er auf die "Grenzen des Wachstums" hinwies. Heute haben wir Peak-Oil, den Förderhöhepunkt fossiler Brennstoffe, längst überschritten. Auch den Überbevölkerungs-Paranoikern konnte so wirksam der Sprit abgeregelt werden. Peak Population wird um das Jahr 2050 bei neun oder zehn Milliarden Menschen liegen, die sich mit ein bisschen Umverteilung und Produktivitätsfortschritt in der Landwirtschaft spielend ernähren lassen. Relax!

Aber gilt das auch für nicht physikalische Wachstumsprozesse, die somit der physischen Gravitation entfliehen könnten? Moores Law, die eineinhalbjährliche Verdopplung der Rechnergeschwindigkeit, ist so ein Grenzfall. Es lässt sich über hundert Jahre und fünf Rechnertechnologien zurückverfolgen und die Singularity-Jünger um Ray Kurzweil glauben, dass es auch locker noch hundert Jahre so weiter gehen kann, bevor wir in die Sättigungszone gelangen. Man wird sehen.

Individualität als konzept der westlichen Moderne

Unter den digitalen Nerds jedenfalls haben einige, die sich selbst "Post-Privacy-Spacken" nennen, darauf verwiesen, dass auch die Privatsphäre ein historisch angebundenes Konzept ist, das seine Hochphase zusammen mit einem bestimmten Entwicklungsstand der techno-sozialen bürgerlichen Produktivkräfte hatte und seitdem im Sinkflug ist. Was fällt, das soll man noch stoßen.

Wenn aber die Privacy schon auf dem Weg nach draußen ist, wie sieht es dann aus mit einem noch viel größeren, gleichzeitig zentraleren und abstrakteren Konzept der westlichen Moderne: der Individualität? Gibt es Anzeichen für einen sich abzeichnenden Zenit dieses alles überragenden Trends des 20. Jahrhunderts? Indizien eines Erschlaffens oder gar einer Umkehr jenes scheinbar natürlichen Drifts zur Partikularisierung und Granularisierung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft? Eine Schubumkehr beim Mainstream der Minderheiten? Auf den Begriff gebracht: Peak Individualism?

Dazu muss man erst einmal verstehen, was Individualisierung überhaupt ist. (Grundsätzlich sollten wir dem Erklärungsgehalt von Wolkenschieberbegriffen dieser Endung misstrauisch gegenüber stehen, siehe aktuell auch: "Digitalisierung"). Zunächst mal erscheint das moderne Individuum als Quintessenz der beiden Basis-Überbau-Phänomene abendländische Aufklärung und westlicher Kapitalismus auf der Bildfläche.

Zerfallsprodukte der anarchistischen Bewegung

Der Historiker Philipp Sarasin zeigt in seiner verdienstvollen Schrift „Reizbare Maschinen“, mit der er Foucault vom Kopf auf die Füße stellt, dass das moderne Ich mit seiner Subjektivität und seinem Begehren – „die Tatsache, dass wir einen Körper haben und uns dessen bewusst sind“ – ein lupenreines Produkt des Hygienediskurses im späten 18. und 19. Jahrhundert ist. Inklusive den heutigen Spätfolgen Jogging, Achtsamkeit usw.

Die erste erklärte Bewegung von „Individualisten“ mit eigener Programmschrift entstand dann aber erst im frühen 20. Jahrhundert, interessanterweise als Zerfallsprodukt der anarchistischen Bewegung – sozusagen als dritter Weg zwischen Terrorismus und Anarchosyndikalismus.

Die Individualisten waren Prä-Hippies mit allem was dazugehört: Körperkult, freie Liebe, Auflösung der bürgerlichen Kleinfamilie. Mainstream-tauglich wurde das erst, als sie auf den Markt trafen, der ihnen ihr Streben nach dem "Selbst" und dessen „Verwirklichung“ zurückverkaufte als warenförmige Ego-Prothesen, vulgo Lifestyle. Der Rest ist Geschichte, die Geschichte einer Paradoxie („Brian: You're ALL individuals!“ – „The Crowd: Yes! We're all individuals!“ ... ) als ökonomisches Perpetuum Mobile (Sinus-Milieus, Brandstretching, Mass-Customization, you name it!).

Donald Trump und Patti Smit: Elementarteilchen einer modernen Normalität

Diese Eskalation der Individualisierung vom linken Emanzipationsprojekt der Befreiung des Selbst von den Normierungen der modernen kapitalistischen Massengesellschaft hin zum Selbstunternehmertum neoliberaler Prägung zeigt sich paradigmatisch an der Figur von Jerry Rubin: In den 1960ern avancierte er als Gründer der Yippies zum Posterboy der Westküsten-Counterculture mit ihren LSD-Selbsterfahrungstrips, mutierte jedoch in den 1980ern zum New Yorker Yuppie, der zum Business Networking ins Studio 54 lud. So wurde er, wie auch andere Figuren der kalifornischen Gegenkultur, etwa Stewart Brand, zu einem Vorreiter des hyperindividualisierten digitalen Netzwerkkapitalismus.

Seinen epochalen Film „Hypernormalisation“ beginnt der BBC-Filmemacher Adam Curtis mit der These, dass um das Jahr 1980 herum – also die Zeit, in der auch Monty Python's „Life of Brian“ entstand – der marktförmige Individualismus noch einmal einen Turbo eingebaut bekam – und dass letztlich Donald Trump und Patti Smith beides Elementarteilchen dieser Neuauflage einer Stirner’schen Ideologie vom „Einzigen“ und seinem Eigentum seien, mit freilich unterschiedlichen Ladungsvorzeichen.

Beide, Trump und Smith, hätten die neue gesellschaftliche Normalität akzeptiert, dass zu diesem Zeitpunkt Politik als deliberativer Entscheidungsprozess zwischen kollektiven Alternativen ausgehebelt worden sei, und es nur noch um das Management von Märkten und Systemen gehe.

Einzeln und frei wie ein botanischer Garten

Während Smith zusammen mit Robert Mapplethorpe im Chelsea-Hotel danach forschte, was dieses neue Normal mit ihnen als ästhetisch feinfühligen Individuen anstellte und wie sie einen dazu passenden individualistisch-künstlerischen Ausdruck finden könnten, baute Trump Häuser für die Superreichen, die eh längst nicht mehr am Gesellschaftsspiel teilnahmen. So kann man die Geschichte erzählen.

• Die Diagnose vom Peak Individualism wird am 17. Juni auf dem Digital Bauhaus Summit 2017 in Weimar diskutiert. Es sprechen Emily Segal über Normcore, Timo Daum über die Anfänge des Selfie-Entrepreneurship bei Jerry Rubin und Katja Kullmann über das Billy-Regal als soziokulturellen Indikator.

 

• Auch taz.meinland bringt seinen runden Tisch nach Weimar und lädt bereits am 16. Juni zur Diskussion unter der Überschrift: Future is not an Option – Wie gemütlich lebt es sich in der Blase?

 

• Weitere Informationen und Gesamtprogramm: http://digitalbauhaussummit.de

Es gab ja sogar einmal so etwas wie eine gegen diesen feuchten Ayn-Rand-Traum vom atomaren Bürgerkrieg gerichtete, quasi angesoftete sozialdemokratische Utopie zur fortschreitenden Individualisierung, fast wie in den anarchistischen Anfangstagen der Bewegung, Motto: einzeln und frei wie ein botanischer Garten… Chris Anderson formulierte mit seinem „Long Tail“ die Idee einer dank Internet flaschenhals- und nadelöhr-losen Gesellschaft, in der jeder nach seiner Façon selig werden könne.

Über Empfehlungsalgorithmen würden die Menschen aus dem Massenmainstream, der bei Licht besehen eine Zwangsveranstaltung aus Mangel an Bandbreite war, herauseskortiert in die Nischen, wo sie sich wohler fühlen, weil sie ihre naturwüchsige Individualität mit Gleichgesinnten dort in bedeutsamen Beziehungen voll ausleben könnten: „Bisher waren wir dank oberflächlicher massenkultureller Überschneidung mit anderen Menschen nur ganz lose verbunden. Jetzt haben wir die Möglichkeit, mit genauso vielen, wenn nicht sogar noch mehr Menschen eine weit engere Bindung einzugehen, mit denen man die Affinität zu einer Nischenkultur teilt.“

Normcore aus dem hipsterischen Herzen der Finsternis

Der Soziologe Christoph Kucklick benutzt die Universalmetapher der „Granularen Gesellschaft“: Das Bild der Gesellschaft wird immer granularer, hochauflösender und trennschärfer und wir sind alle bunte Pixel darin. Na, wenn das mal keine Utopie ist?! Die Gesellschaft als HD-Flachbildschirm. Hurra!

Und heute? Bei Flachbildschirmen sind wir mittlerweile beim 4K-Standard und der „Long Tail“ wurde auf wundersame Weise zum Rohrkrepierer. Es gibt ihn noch, den guten alten Mainstream. Es gibt die aufgefächerten Nischenmilieus, die aus den überschaubaren Polaritäten Rocker-Hippie-Punk-Popper in einen bunt schillernden Scherbenhaufen der Distinktion zersprungen sind. Und es gibt eine unfassbare Müdigkeit, einen fast Fin-de-Siecle-haften Ennui angesichts des Ganzen. Hat sich der Patti-Smith-Donald-Trump-Individualismus nun endgültig zu Tode gesiegt? Kommt die Trendsetter-Tretmühle "Ein Leben auf der Flucht vor der Early Majority" nun endlich langsam mal zum Stillstand?

Erste Anzeichen dafür erreichen uns – direkt aus dem hipsterischen Herzen der Finsternis. 2013 schaffte erstmals seit langem ein Trendbegriff durchzuschneiden durch das Kräuseln der Fashionblogs, Marketingagenturen etc. und weltweit Welle zu machen: „Normcore“ –  erfunden von Emily Segal im Dienste der New Yorker-Hipster-Trendforecasting-Agentur K-Hole – beschreibt das Phänomen, das sich die hipsterischsten Hipster in Williamsburg und anderswo neuerdings anziehen wie Hardcore-Normalos mit weißen Tennissocken, Moonwashed-Jeans und Fallschirmseide-Trainingsjacken, ganz offensichtlich um dem ermüdenden Hase-und-Igel-Spiel von In and out zu entkommen.

Die nächsten Volten und Levels im Räuber-und-Gendarme-Spiel der Avantgarden

In Kreuzkölln und Berlin-Mitte brauchte man das niemandem groß zu erklären, dort liefen die Hipster schon seit spätestens 2010 so rum. Dafür kann man hier in wirklich gut sortierten Läden Klamotten des Londoner Labels „This Is The Uniform“ kaufen, das auf seiner Website erklärt, besonders an „stereotypes, preconceptions and context“ von Fashion interessiert zu sein.

Zeitgleich erklärt der anonyme Designer hinter der Anti-Fashion-Denim-Brand  „69“ aus L.A. im Interview, seine Designs seien „timeless and classic, yet made in our present and meant for the future“. 69 sei nicht „based in a fashion world but in an ideal lifestyle world“. Man mag das für Budenzauber, Smoke and Mirrors halten, die nächsten Volten und Levels im Räuber-und-Gendarme-Spiel der Avantgarden.

Dennoch spricht aus all diesen Symptomen ein existenziell und zutiefst empfundener Überdruss am Individualismus. Präziser: am Terror, immer und stets man selbst sein zu müssen, die beste Version des eigenen Selbst präsentieren zu können und morgen eine noch bessere. Überhaupt, auskunfts- und rechenschaftsfähig darüber sein zu müssen, wer man ist und warum.

„Alles so bunt hier!“ (Nina Hagen)

Wir alle sehnen uns nach Entlastung von diesem Evil Twin und wünschen uns, das eigene fashionable Selbst, so wie es Oscar Wildes „Dorian Gray“ getan hat, einfach mal für eine Zeit in den Wandschrank zu sperren, wo es dann vielleicht sogar in Würde altern kann. Dies alles gibt es also.

Der eigentliche Todesstoß oder, wie man heute sagt, Challenge für den Individualismus westlich-kapitalistischer-Prägung kommt jedoch aus einer anderen Richtung. Da der Versuch geglückt ist, 1,3 Milliarden Chinesen nicht über Individualismus, sondern über eine Kombination aus Kollektivismus und Marktwirtschaft aus Armut in die Mittelschicht zu hieven, weil selbst die neuen asiatischen Superreichen in ihrem Lebensstil eher einen luxuriösen Konformismus als den exzentrischen Individualismus eines Donald Trump anstreben, müssen wir uns fragen, ob der abendländische Individualismus wirklich so alternativlos ist, wie er stets vorgab zu sein, indem er alle Poren mit sich selbst und seinen vielfarbigen Klonen verstopft hat.

Oder wie es seinerzeit Nina Hagen schon aus der grauen DDR per Mauerschau richtig auf den Punkt gebracht hat: „Es ist ja alles so bunt hier! Ich kann mich gar nicht richtig entscheiden!!!“ Zurück also zum Grau! Zurück zur Uniform! Zurück zum Beton! Es kommt bekanntlich darauf an, was man daraus macht. Peak Individiualism is near! Relax!