ZWISCHEN DEN RILLEN : Ein entschieden soziales Album
Bon Iver: „Bon Iver“ (4 AD/Beggars/Indigo)
Das Gegenteil von einem Anfang. Hinter dem pidgin-französischen Bandnamen Bon Iver, der an den guten Winter erinnern soll – falls es einen solchen überhaupt geben kann –, steckt im Wesentlichen der Sänger, Komponist und Multiinstrumentalist Justin Vernon. 2008 landete Vernon mit seinem Waldeinsamkeits- und Liebeskummeralbum „For Emma, Forever Ago“ einen Überraschungserfolg. Die Zeit seither nutzte er mit Gastbeiträgen auf Soundtracks und der Zusammenarbeit mit dem HipHop-Star Kanye West. Jetzt hat er sich für das Gegenteil des Anfangs entschieden und ein entschieden soziales Album gemacht. Eines, das nicht nur Orte, Stationen abgrast, von „Perth“ bis „Lisbon, Oh“, jedenfalls den Songtiteln nach, und so vom Transit erzählt, sondern auch explizit ein Bandalbum sein soll. Natürlich hat Vernon immer noch den Hut auf – aber live wird er mit einer neunköpfigen Band auftreten, und auch das Album wurde von mindestens ebenso vielen Musikern eingespielt.
Dieser transitive und soziale Aspekt ist nicht das einzige, was „Bon Iver“ vom Debütalbum unterscheidet. Der wichtigste Unterschied liegt im Klang und damit in der musikalischen Stoßrichtung. Kurz: Man kann den Einfluss von Kanye West in jedem Soundpartikel spüren. Und das macht die Sache höchst interessant. Denn was damit vorliegt, ist nichts weniger als der Versuch, weiße Folkmusik, also solipsistische, karge, ärmliche Musik in einen schicken, neureichen, souligen Zusammenhang zu bringen, also einen Transit zwischen Blockhütte und Apartment in Manhattan zu wagen, und, ich nehme es vorweg, das kann natürlich nur schiefgehen. Bei diesem Scheitern zuzuhören, ist aber trotzdem ein Vergnügen.
Wir haben merkwürdige Synthiesounds, die nicht von Synthies stammen, sondern von echten Instrumenten gespielt sind, so wie es auch geschrieben, also im Booklet steht. Wir haben die ungewöhnliche Stimme Vernons, die mit „ätherisch“ nur unzureichend beschrieben ist. Und wir haben den Einsatz von in Folk- und Indie-Kreisen mindestens als schwierig geltenden Blasinstrumenten wie dem, tata, Saxofon. Am eindringlichsten verschmolzen werden diese Elemente im Schlussstück „Beth/Rest“ samt Einsatz eines E-Pianos – kein Wunder, dass die meisten Kritiken spätestens hier ins Unbehagliche kippen. Was wir aber nicht mehr haben, ist der einsame Einsatz einer Klampfe. Die Zeichen sind ausgetauscht – Liebeskummer und Eremitentum, Identitätssuche in der Abgeschiedenheit waren gestern. Jetzt geht es ums ganze Gefühl.
Am meisten macht sich das an der Stimme bemerkbar (herrje, schon dieser Satz klingt komisch). Klang Vernon auf „Emma“ noch nach Orpheus am Wildbach, also wie jemand, dessen zwischen Trauer und Entrüstung pendelnde Stimme die Götter bezirzen kann, wirkt seine Stimme auf „Bon Iver“ durch Modulation (Autotune) oft dermaßen künstlich, dass an Folktraditionen nicht mehr gedacht werden kann. „Beth/Rest“: Irgendwie kommen dabei Erinnerungen an schmalzige, künstliche Balladen aus den achtziger Jahren hoch, vielleicht wäre „One More Try“ von George Michael zu nennen, vielleicht so einiges von Howard Jones oder den entsprechenden, nicht minder schrecklichen Soul-Versuchen dieser Zeit (Lionel Richie et al.). Natürlich ist das Songmaterial auf „Bon Iver“ besser – es ist nicht glatt, nicht vorhersehbar, nicht mediengerecht. Es ist zeitgemäß gute Musik. Und scheitern tut sie doch.
Um den Winter geht es Vernon nach dieser dylanesken Wende zwar immer noch. Neben Bärten, abgewetzten Norwegerpullis und Pudelmützen wird man sich künftig aber auch Seidenpyjamas und Jalousien aus Edelholz zu dieser Musik denken müssen. Es wird spannend sein zu sehen, ob sich diese neue soziale Mischung auch auf Bon Ivers Konzerten ergeben wird. Mit einer ebenso orchestralen wie beklemmenden Vorstellung wird auf jeden Fall zu rechnen sein.
RENÉ HAMANN