ZWEITER TAG : Kleine Korrekturen
Noch einmal willkommen! Gestern Vormittag passierte endlich etwas auf dieser 60. Berlinale: Die Jury des Wettbewerbs stellte sich der Presse, und siehe da: Es wurde nicht nur Chichi-Kram abgefragt. Eine Journalistin wollte etwa von Nuruddin Farah wissen, ob er die „Wüstenblume“-Verfilmung gesehen habe. Der 65-jährige Schriftsteller, bekannt dafür, in seinen Romanen die Situation der Frau im postkolonialen Somalia zu thematisieren, verneinte, ergänzte aber, er habe über weibliche Genitalverstümmelung bereits 1968 in seinem Debütroman „Aus einer gekrümmten Rippe“ geschrieben.
Skandalisiert wurde das Thema erst 30 Jahre später, als das somalische Topmodel Waris Dirie es mit „Wüstenblume“ zu seinem Programm machte. Womit mal wider live auf dieser Eröffnungs-PK die Wichtigkeit von hübschen Gesichtern für gravierende Missstände bewiesen worden wäre. Deshalb musste man auch gar nicht groß fragen, wieso Renée Zellweger mit ihrem halb gütigen, halb schmollenden Blockbuster-Lächeln so perfekt in die Wettbewerbs-Jury dieser Berlinale und an die Seite des ernsten Werner Herzog passt. Letzterer stellte noch mal klar, nur weil er in L.A. lebe, bedeute das noch lange nicht, dass er im Hollywood-System arbeite – er sei halt in der Stadt verheiratet!
Und was erwartet uns heute, am zweiten Berlinale-Tag? Im Wettbewerb feiert „The Ghost Writer“ Weltpremiere, Polanskis Adaption von Robert Harris’ 2007 erschienenem Politroman „Ghost“. Dass Ewan McGregor hier einen britischen Literaten spielt, der sich für ein stattliches Honorar verpflichtet hat, die Memoiren eines früheren britischen Premierministers zu verfassen, klingt interessant. Dass er dabei (auf Sylt und Usedom, die uns hier als Martha’s Vineyard verkauft werden) hinter dessen brisante Geheimnisse kommt und beginnt, um sein Leben zu fürchten, auch. Aber lenken wir die Aufmerksamkeit kurz von der Tatsache, dass es hier kaum verschleiert um Tony Blairs CIA-Affären geht und Polanski in der Schweiz noch immer eine Fußfessel trägt, und konzentrieren uns stattdessen auf einen anderen Aspekt: Erinnert der Plot nicht auch stark an Jonathan Franzens „Die Korrekturen“? Dort gab es schon 2001 den Literaturdozenten Chip Lambert, der aus Geldnot den Auftrag annimmt, für einen hochkriminellen Litauer, der früher Politiker war, Schreibdienste auszuführen, und der in Vilnius, fern seiner Heimat, bald ebenfalls Todesängste aussteht. Ist man seit Helene Hegemann nun komplett paranoid? Bis morgen!
JAN KEDVES