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Wolf Lotter zum Grundeinkommen Nervensäge rettet Marktwirtschaft

Das Grundeinkommen ist die alte Nervensäge der Sozialreformen. Doch in der Krise kommen gerade die nicht mehr dran vorbei, die sie jetzt noch schrecklich finden.

Von WOLF LOTTER

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»Manchmal scheint es in der praktischen Politik nützlich, sich mit dem Teufel zu verbünden. Man kann das Richtige – das, was man für richtig hält – nur erreichen in der Koalition mit anderen, die dasselbe, wenn auch aus falschen Gründen, wollen.«

Das ist nicht nur in Zeiten wie diesen klug gedacht. Aufgeschrieben hat es der liberale Vordenker Ralf Dahrendorf in einem Beitrag für das von Klaus Wagenbach verlegte Buch Befreiung von falscher Arbeit, das 1986 erschien. Es enthält, wie der Untertitel es formuliert, »Thesen zum garantierten Mindesteinkommen«. Dahrendorf vertritt darin die Auffassung, dass ein garantiertes Mindesteinkommen ein »konstitutionelles Anrecht« ist, also eine Frage, ob wir – oder irgendjemand in diesem Land – die Verfassung, das Grundgesetz wirklich ernst nehmen. Tut man es und will man diese Verfassung und die schützen, für die sie gedacht und gemacht ist, dann kommt man an einem Grundeinkommen nicht vorbei. Das ist keine wirklich neue Einsicht, denn Menschen, denen die materielle Existenz genommen wird – oder deren materielle Existenz durch andauernde Krisen tagtäglich gefährdet wird –, die neigen dazu, so lehrt die Geschichte, allen zu folgen, die Brot und Auskommen versprechen.

Natürlich war Dahrendorf nicht der Einzige, der sich in den 1980er-Jahren für ein bedingungsloses Grundeinkommen stark machte, und es waren sonst keineswegs nur Linke, die dafür plädierten. Neben Dahrendorf war es der Ober-Chicago-Boy Milton Friedman, der – jetzt bitte stark bleiben und/oder ein Kreuz schlagen – mit dem US-Präsidenten Richard (Tricky Dicky) Nixon erst konspirativ, dann offen überlegte, was denn geschehen würde, wenn jeder amerikanischen Bürgerin, jedem Bürger ein gewisser Grundbetrag von Rechts wegen zustehen würde.

Wer nicht arbeiten konnte oder wollte, der würde einen festen Betrag erhalten, anstelle der je nach Bundesstaat und Region unterschiedlich gestalteten Sozialhilfeschecks, die schon damals ihre Empfänger diskreditierten und vor allen Dingen einer konstant wachsenden Sozialbürokratie nützlich waren. Immer weniger kam bei denen an, die es benötigten, immer mehr kostete es, die unterschiedlichen Hilfen zu verwalten. Das ist hier nicht anders.

Friedmans Initiative scheiterte so nicht nur an alten Hardcore-Republikanern, die fest nach dem Bibelgebot »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« handelten, aber auch an linken Lobbys bei den Demokraten, die befürchteten, dass ihnen mit einer einfachen, umfassenden Regelung, bei der die materielle Existenz aller gleichermaßen gesichert werden würde, der eigentliche Geschäftszweck – das Helfen – abhandenkommen würde.

Das steht stellvertretend bis heute für eine alte Politik, bei der Klientenbewirtschaftung wichtiger ist als Selbstbestimmung, Fürsorgegeschäft wichtiger ist als die Ermächtigung derer, in deren Namen angeblich Politik gemacht wird.

An ihrem Zaudern sollt ihr sie erkennen.

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Konservative Arbeitgeberverbände und Unternehmer fürchten das Grundeinkommen ebenso wie linke Interessengruppen, die im entwickelten Sozialstaat das Verteilungsestablishment bilden. Was Dahrendorf also über die Frage der Koalition mit Leuten sagte, die das Richtige aus falschen Gründen wollen, das stimmt für die Gegner wie für die Befürworter.

Das Grundeinkommen ist also lästig. Aber das ist eigentlich nicht die Frage. Die Frage ist: Kann eine Transformation von einer Industriegesellschaft und ihrer Vollerwerbsdoktrin funktionieren, ohne dass es eine stabile soziale Konstante gibt? Wie sind Krisen, die sich nun auch ökonomisch im Gefolge von Pandemie, Krieg und Inflation verstetigen, zu überwinden, wenn es nicht eine grundlegende Sicherung gibt, bei der ein materielles Fundament plus eine ebenso grundlegende Gesundheitsversorgung vorhanden sind?

Friedmans Grundeinkommen der späten 1960er-Jahre in den USA war das Ergebnis einer eindeutigen Erfahrung: Der Deindustrialisierung des Landes. Die USA waren schon vor dem Zweiten Weltkrieg die führende Industrienation geworden. Der Fordismus – benannt nach dem Automobilunternehmer Henry Ford, einem Bewunderer der Nazis und deren straffer kollektiver Ordnung –, der Industrialismus war zu einer gesellschaftsformenden Kraft geworden. Riesige Anlagen wie Fords »River Rouge«-Fabrik zeugten von der vermeintlich alles gestaltenden Kraft der Massenproduktion. Was das für Mensch, Umwelt, Ressourcen bedeutete, spielte in Zeiten wie diesen keine Rolle. Das war auch in den 1960er-Jahren nicht viel anders, denn wer hörte schon auf Rachel Carson oder die Befürchtungen des Club of Rome wirklich?

»'Cause we are living in a material world, and I am a material girl«, sang Madonna, und wir alle singen mit, macht euch keine Illusionen. Materielles siegt, erst recht, wenn Krisen durchs Fenster schauen. Postmaterialismus, ich sage es gerne immer wieder, muss man sich erst mal leisten können. Wer Transformation will, A sagt, kann beim B, dem Grundeinkommen, nicht zaudern. Sonst kriegt er eins aufs Dach. Das wusste man früher mal ganz gut, heute lernen es all jene, die meinen, die Transformation wäre mit guten Worten allein zu bekommen.

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Aber etwas anderes geschah: Die Wohlstandsmaschine der amerikanischen Konsumgesellschaft, untrennbar verwoben mit der Fabrikkultur, war mehrfach ins Stocken geraten. Das Wirtschaftswunder zeigte Abnutzungserscheinungen, übrigens auch in der Bundesrepublik. Die ganz fetten Jahre waren vorbei. Den Wachstumsapologeten traute man nicht mehr alles zu. Das war ja auch der Grund, weshalb in der BRD die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt die Macht von den Konservativen übernahm.

Dann die 70er-Jahre. Die Ölkrise, die 1973 begann, traf die Grundstoffindustrie – vor allem Stahl und Kohle – mit voller Wucht. Massenarbeitslosigkeit war in den zusammenbrechenden Industrieregionen nun keine böse Erinnerung an die 20er- und 30er-Jahre. Sie war eine bittere Perspektive für die Jungen. Dabei war es egal, ob man in Manchester, Liverpool, in Allentown/Pennsylvania oder im Ruhrgebiet lebte. Die Vorstellung bekam erste Risse, dass ein umlageorientiertes Sozialsystem, wie es wenigstens in Deutschland, von Bismarck eingeführt, seit 1885 existierte, weiterhin alle tragen konnte. Leuten wie Dahrendorf und Friedman war klar, dass das die Anzeichen der beginnenden Transformation waren, des Wandels von der Industrie- zur Wissensgesellschaft.

Dinge wie Vollbeschäftigung und Normalarbeitszeit sind Relikte der Industriegesellschaft. Sie gab es vorher nie. Menschen arbeiteten, wenn etwas zu tun war, mal mehr, mal weniger, jedenfalls nicht in den Routinen, die die Industriegesellschaft schuf, drei Schichten am Tag, von neun bis fünf, ein Leben eingeteilt in Schule, Ausbildung, Beruf und Rente.

Diese Normalität hatte immer ein Ablaufdatum.

Daran wäre auch nichts schlimm. Nahezu alle Sozialvisionäre gingen ja davon aus, dass Automatisierung und Technik auch zu einem sozialen und kulturellen Fortschritt führen würden. Dazu musste man nicht Marx oder Engels heißen. Alle Menschen sollten weniger arbeiten, dafür gehaltvoller, persönlich erfüllter, nach ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten also.

Womit aber niemand rechnen konnte, das war, dass die für die Phase der Vollbeschäftigung geschaffenen Systeme und Rahmenbedingungen einen Umstieg eigentlich nicht zulassen. Die Umlagefinanzierung von Renten beispielsweise kann man nicht einfach außer Kraft setzen, auch wenn die Einzahlungen der Alten längst von allen verfrühstückt wurden. Das weiß man seit Jahrzehnten, man lebt auf Kosten der jeweils nächsten Generation und schiebt das Ding, das immer fetter und größer wird, vor sich her. Das klappt eigentlich nur, weil Wachstum und Konjunktur freundlicherweise (und mit allen lebensgefährlichen Nebeneffekten) immer wieder für Hoffnung sorgen, dass man das schon hinkriegt.

Dann erspart man sich den großen Cut, den niemand machen will, am wenigsten Politiker, die dann den Rentnern sagen müssten: Tut uns leid, Leute, aber Altersversorgung gibt es nicht mehr. Die Sozialpolitik hat sich, nein, wir alle haben uns längst mit dem Teufel verbündet, und anders als bei Dahrendorf gibt es keine Hoffnung darauf, dass eine Koexistenz, eine Koalition etwas bringt. Im Sozialsystem gilt ein und dasselbe, was auch für die ressourcenfressende Industrieproduktion der alten Gesellschaft gilt: Kompromisse tragen nicht. Nur der Ausstieg, dem ein Umstieg folgen muss, trägt. Es lassen ist nicht genug, wir brauchen auch eine Idee für das, was dann kommt.

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Transformation ist ein umfassendes Geschäft, und vielleicht scheuen sich so viele deshalb davor, weil sie wenigstens ahnen, dass es nicht genug ist, eine Sache, und sei sie noch so gut, zu betreiben und dabei die Nebenwirkungen zu vergessen. Die Nebenwirkung der Deindustrialisierung ist der Ausstieg aus der Arbeitskultur und Arbeitsorganisation der Industriegesellschaft, aber eben auch aus deren Sozialsystem.

Eine Zivilgesellschaft braucht das, was vor einigen Jahrzehnten als Flexicurity propagiert wurde, ein Schlagwort, dass Anfang des 21. Jahrhunderts in der Regierung Schröder II vom grünen Wirtschaftsstaatssekretär Rezzo Schlauch oft und gern benutzt wurde. Die Sache ist einfach: Eine komplexe, diverse, also vielfältige Gesellschaft braucht einen neuen, einfachen Gesellschaftsvertrag, den alle durchschauen können, der kalkulierbar ist, ein Sicherheitsnetz, dass uns dabei hilft, mit den Überraschungen und Neuerungen der Wissensgesellschaft umzugehen. In der Welt des Industrialismus gab es nur zwei Zustände: volle Konjunktur oder volle Krise. Arbeit oder Arbeitslosigkeit. Trotz aller schlechter Erfahrungen, nicht nur, vor allem aber der Weltwirtschaftskrise ab 1929, die unmittelbar den Nazis in die Hände spielte, kümmerte man sich nach 1945 viel zu wenig um ein flexibles, fehlertolerantes, transformationskompatibles Sozialsystem.

Genau das aber fehlt uns jetzt.

Gegen die Konjunkturdellen der 60er-, 70er- und 80er-Jahre (die Dahrendorfs Appell begleiteten) ist das, was uns erwartet, ein größeres Problem. Die Hoffnung, dass wir auch hier, in der Bündelung der Krisen, nochmal den großen Schnitt und großen Schritt verhindern könnten, ist trügerisch und gefährlich. Oder, um es mit Heiner Müller zu sagen: Optimismus ist nur ein Mangel an Informationen.

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Schon 2020 wurde mehr als ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik für Soziales aufgewendet. Das ist eben nicht nur die Folge von Corona und Kurzarbeitergeld, auch wenn das tief reinhaut. Es sind vor allen Dingen die notdürftigen Rettungsmaßnahmen für das völlig überlastete System der Gesundheitskassen, Krankenversicherung und Pflegeversicherung also, die Rentenkassen, all das, was systemisch auch ganz ohne Pandemie und vor dem russischen Angriffskrieg da war. Mehr als eine Billion Euro für Sozialausgaben war schon vorher fällig. Es ist auch keine »neoliberale Propaganda«, dass dafür immer weniger Einzahler zur Verfügung stehen – immer mehr Leute haben immer mehr Ansprüche, die von immer weniger Einzahlern in die Kasse bezahlt werden müssen. Auch das weiß man seit Jahrzehnten, eine weitere unangenehme Wahrheit, die immer verbissener ignoriert wird – von eben jenen Linken und Rechten, die beim Systemwechsel ihre eigenen Interessen beschädigt sehen.

Dann müssen eben die ran, um die es geht, die Jungen und die nüchternen Alten, die nicht wollen, dass alles den Bach runtergeht. Die Politiker, die verstanden haben, dass Transformation – Verwandlung – natürlich eine Übergangszeit ist, in der gerade jetzt klare soziale Leitplanken aufgestellt werden müssen. Die Unternehmer, die verstanden haben, dass das »bedingungslos« in Grundeinkommen nicht bedeutet, dass man einfach mehr Knete vom Staat kassiert, sondern ein Übergangsgeld, mit dem sich die neuen Zeiten leichter bewältigen lassen, Kollateralschäden vermieden werden und das Ganze, das also, was das Grundgesetz schützen soll, die Demokratie und ihre Menschen, nicht den Bach runtergeht.

Wir haben also gar keine Wahl.

Wer hofft, dass alles wieder so wird, wie es in Wahrheit nie war, der vergeht sich an dieser und künftigen Generationen. Und das Grundeinkommen, weit abseits der Herz-Jesu-Mentalität vieler seiner Befürworter, braucht nüchterne Menschen, die sehen, dass es nicht um »Faulheit« oder »Fleiß« geht, sondern schlicht darum, dass uns nicht die Hütte abbrennt. Das gilt sinngemäß auch für alles, was mit dem Gesundheitswesen zu tun hat. Wir brauchen Fundamente, damit wir flexibel sein können. Statt des alten industriellen Entweder-oders ein Sowohl-als-auch.

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Dieser Übergang ist nicht die letzte Butterfahrt der Industriegesellschaft und ihres Vollbeschäftigungs-Sozialsystems. Es wird weniger. Aber es wird auch weniger sinnlosen Druck geben. Der Wahnsinn, Menschen zu einer Arbeit zwingen zu wollen, die es nicht mehr gibt, muss erst mal aufhören. Und die Erkenntnis muss diesen Schritt begleiten, dass viele in einer Zeit, von der niemand weiß, was kommt, natürlich auch keine festen Pläne machen können. Das ist mehr, als man der deutschen Seele bisher zumuten durfte, sehr viel mehr.

Gewiss: Diese Seele, sie hört lieber falsche Versprechungen von einer Zukunft, als diese Zukunft selbst zu erarbeiten, indem sie herausfindet, wohin es gehen könnte. Doch das ist jetzt wirklich die Stunde der Wahrheit. Wenn jemand in der Liga der Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens das verstanden hat, dann der aus der Schweiz stammende, in Hamburg lehrende Ökonom Thomas Straubhaar, ein Liberaler, bei dem es so manchem FDP-Porschemännchen die Haare aufstellt, also das geschieht, was ja auch Ralf Dahrendorf in Deutschland von den Reaktionären aller Lager widerfuhr.

Egal. Cool bleiben. Straubhaars Bücher zum BGE appellieren nicht an Menschenbilder und Moral, sondern an den Mammon, ans Materielle, an die Vernunft, mit Verlaub.

Sein aktuelles Buch heißt in schöner Klarheit Grundeinkommen jetzt!: Nur so ist die Marktwirtschaft zu retten!. Darin können alle, die mögen, nachlesen, was Straubhaar gut und solide gerechnet hat, argumentiert, nachvollziehbar macht. Das gilt für Rechte, Linke, Gewerkschafter, Erben, Reiche und Arme, und es gilt nicht nur für die Freunde der Marktwirtschaft, sondern auch für die, die die doof finden. Vielleicht sogar für die noch mehr als für alle anderen. Transformation heißt Verwandlung, dafür braucht man echt Geduld, Nerven, Toleranz und vor allen Dingen nüchternen Verstand und eine Zuneigung zur Realität. Die Nervensäge, der Querulant, vielleicht sogar der Teufel selbst, sie sind, kühl betrachtet, vielleicht unsere besten Verbündeten, um dem alten Schlamassel zu entgehen. Stimmt schon, wir wissen nicht, ob wir damit glücklich werden. Wir wissen nur, dass Dogmen keine Miete zahlen.

WOLF LOTTER ist Autor, Essayist, Gründungsmitglied von brand eins und war dort mehr als 20 Jahre lang Leitessayist. Er schreibt Bücher, etwa über Diversität, Unterschiede. Wie Vielfalt für mehr Gerechtigkeit sorgt oder Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen (beide Edition Körber). Seit Herbst erscheint sein Podcast Trafostation (Haufe). Er ist Mitglied des PEN-Berlin.

taz FUTURZWEI N°23 „Die Zukunft von gestern“

Dieser Beitrag ist im Dezember 2022 in taz FUTURZWEI N°23 erschienen.