Wo endet die Meinungsfreiheit oder: Vom Boykott zur Barbarei

■ Zu den physischen Attacken auf Katharina Rutschky

Die Meinungsfreiheit ist ein hierzulande derart anerkanntes Gut, daß die Erwähnung dieses Wortes schon ein intellektuelles Ennui hervorruft: Haben wir nicht den unermüdlichen Einsatz für die Ausgeschlossenen und Unterdrückten der Gesellschaft, für die Opfer der „strukturellen Gewalt“ von AusländerInnen über Behinderte bis Salman Rushdie unermüdlich kundgetan, daß auch die Linken Demokraten sind, daß sie sogar in punkto Unbestechlichkeit, Engagement, Zivilcourage der verfaulten bürgerlichen Gesellschaft den blankgeputzten Spiegel vorhalten können?

Um so schlimmer, um so peinlicher, um so beschämender, wenn die Avantgarde der kritisch-guten Geister, der immer Besorgten um das Wohl der Stimmlosen, versagt, wo sie selbst angesprochen ist, wo sie beweisen müßte, daß sie die Meinung eines anderen erträgt, ohne sich selbst zu desavouieren.

Katharina Rutschky, deren abweichende Meinungen zum Thema Kindesmißbrauch, genauer: dessen therapeutische und öffentliche Be- und Verhandlung, auch in dieser Zeitung, immer wieder kontrovers und leidenschaftlich diskutiert worden sind, war – neben anderen WissenschaftlerInnen – zu einer Berliner Tagung zu dieser Frage eingeladen worden, über deren Verlauf in der taz in der Ausgabe vom 24. Januar 1994 berichtet wurde. Die Einladungspolitik dieser Veranstaltung hat Proteste hervorgerufen, und die Tagung wurde – mit dem Verweis auf die dort herrschende „strukturelle Gewalt“ – mit den üblichen Mitteln der aufgeklärten Linken boykottiert. Trillerpfeifen und Hupen, Blockaden und Buttersäure sorgten für die beabsichtigte Verzögerung. In einem aber ging der Protest über das Gewohnte hinaus: Katharina Rutschky selbst wurde beim Betreten des Saales von Protestierenden umringt und dann beschimpft, getreten, gewürgt. Erst laute Hilferufe ihrerseits haben dafür gesorgt, daß sie sich ins „normale“ Publikum hineinretten konnte.

Dieser Umschlag von Boykott in persönlichen Angriff ist ein „Szenezorn“, der sich in nichts von dem unterscheidet, was wir als Ausdruck des „gesunden Volksempfindens“ zu verachten gelernt haben. Das Motiv der stellvertretenden Wut – daß die so ganz besonders Couragierten ja nicht für sich, sondern für Kinderopfer zu kämpfen meinen – macht die Sache nicht besser, sorgt aber für Verklärung: Wer für die Hilflosen andere tritt, kann seinen Stiefel auch noch stolz zeigen. Die Aufklärung dieser Hysterie ist eine permanente Aufgabe der „Linken“, akut und aktuell aber muß sie etwas anderes tun: dafür sorgen, daß eine solche Barbarei nicht mehr vorkommt.

Wer sich von derartigen Methoden nicht distanziert und sie zu verhindern sucht, hat keinerlei Recht, die Ideale von Zivilcourage und freier Meinungsäußerung anderswo einzuklagen. „Die Gesellschaft“ ist kein Gegenüber, sondern das, was wir daraus machen. Elke Schmitter