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Weggucken mit Hingabe

Rückzug aus dem konfliktösen Leben in die Kissenburg: Weltflucht als Lifestyletrend

Das Glück der Erde liegt längst nicht mehr auf dem Rücken der Pferde, sondern in Polstern Foto: ap

Von Mark-Stefan Tietze

Die derzeitige Lage ist vertrackt, verzwickt und verzwackt. Weite Teile der Bevölkerung haben ihre gute Laune verloren und ihre Lebenslust unauffindbar verlegt. Wo immer es geht, ducken sie sich weg, schließen ergeben die Augen und geben keinen Mucks mehr von sich. Weitere Millionen überlegen derweil ernsthaft, sich ihnen anzuschließen. Dabei ist das Ende der Fahnenstange, von der die weiße Flagge weht, längst nicht erreicht: Einer von drei Bundesbürgern fühlt sich von der gegenwärtigen Situation völlig überfordert und gibt auf, die anderen zwei trauen sich bloß noch nicht, es zuzugeben.

Betroffene ziehen sich dementsprechend zurück aus dem konfliktösen Leben, igeln sich angststarr ein und verstecken sich vor der Öffentlichkeit – in Kellern und Dachkammern, in Gartenhäuschen, Chalets und Atombunkern. Schuld daran ist eine historisch einzigartige Konstellation von Krisen, Mega­krisen und Metakrisen, die unserem Planeten und seinen vielen Bewohnern im Augenblick mächtig zusetzen.

Selbst ohne die Unwägbarkeiten des Klimawandels sind die Probleme erdrückend. In unseren Breiten umfassen sie eine ganze Reihe von Scheußlichkeiten, unter denen zu Recht geächzt und gestöhnt wird: vom wirtschaftlichen Niedergang des Westens über den allseitigen politischen Vertrauensverlust bis zum tobenden Krieg in der Nachbarschaft, der in die Häuser überzuschwappen droht. Überdies trägt die bevorstehende, nahezu vollständige Machtübernahme durch einen rücksichtslosen Alleinherrscher nicht gerade zum allgemeinen Wohlbefinden bei. Dafür guckt Kanzlerkandidat Merz einfach zu verdrossen!

Vor seinem höhnischen Zorn und all den anderen Zumutungen fliehen deshalb immer mehr Deutsche in ihre privaten Räuberhöhlen. Sie wickeln sich in Kuscheldecken, verstopfen ihre Ohren mit Wachsmal­stiften und sagen der Öffentlichkeit mit Handkuss adieu. Dass dieser Trend zum Rückzug in den Schutzraum des eigenen Zuhauses seit den späten achtziger Jahren „Cocooning“ genannt wird, stört sie überhaupt nicht. Im Gegenteil: Es sorgt für ein beruhigendes, nostalgisches Hintergrundrauschen, das einen ausreichenden Nachtschlaf auch ohne pharmazeutische Hilfsmittel erlaubt.

Wer sich nämlich zum ersten Mal im Leben in den Kokon der eigenen Innerlichkeit begibt, kann dort für längere Zeit beruhigende Abenteuer erleben. Einige von ihnen führen geradewegs in Morpheus Arme, andere schnurstracks zu stundenlangen Aufenthalten vor dem Fernsehapparat. Wenn vor der Kissenburg ein paar schöne Streaming-Dienste installiert sind, wissen die Leute, dass sie wenigstens dort eine Chance haben, all den furchtbaren Nachrichtensendungen auszuweichen, die ihnen derzeit gründlich die Stimmung vergällen.

Dies jedoch liegt oft gar nicht an der mangelnden Qualität der Darbietungen, an fehlender Ausgewogenheit oder ungenügender Objektivität der Mainstream-Medien. Es liegt auch nicht an den herzensguten Moderatorinnen und Sprechern, die das aktuelle Geschehen präsentieren, sondern an dessen grässlichen Inhalten. Spätestens seit dem zweiten Wahlsieg Trumps und dem anschließenden Bruch der Ampelkoalition gibt es aus der Welt nichts Gutes mehr zu vermelden. Viele Leute betrübt diese geballte Negativität. Sie meiden deshalb das Nachrichtengeschehen. Sie schalten sich aus und klinken sich ein in einen Lebensstil, der Sorglosigkeit verheißt.

In ihren Cliquen sind diejenigen die Stars, die sich am wenigsten kümmern, am wirkungsvollsten abschotten, ihre neurologischen Systeme komplett lahmlegen und sich effektiv tot stellen. Ans Telefon kriegt man sie schon lange nicht mehr. Die letzten Menschen, die auf den Straßen zu sehen sind, sind die Fahrradboten der Lieferdienste. Am populärsten werden Partys, auf die keiner mehr geht. In der Ferne tuckert ein Paket­wagen von Amazon einsam vor sich hin.

Ob das für die Menschen allerdings wirklich gut ist, wagen Wissenschaftler zu bezweifeln. Wer immer nur im eigenen Sud simmert, so geben sie zu bedenken, wer also sein immer knapper werdendes Geld brav nach Hause bringt, routiniert den immer teurer werdenden Hobbys nachgeht und höchstens mal die üblichen Familienprobleme bequatscht, bekommt es mit unheimlicher Langeweile zu tun. Experten betonen die Gefahr, dass bald nur noch Ödnis und Stumpfsinn den Alltag regieren. Die daraus entstehende Apathie schwächt wiederum den Wirtschaftsstandort, das Geld wird noch knapper, Trostlosigkeit macht sich breit in den Hütten.

Diejenigen, die sich am wenigsten kümmern und am wirkungsvollsten abschotten, sind die Stars des Milieus

Es nimmt also nicht wunder, dass zwei von drei Deutschen, die sich in den vergangenen Wochen ins Private verpuppt haben, ihre Hand immer wieder in Richtung Smartphone zucken sehen – ihr Körper wehrt sich gegen den Nachrichtenentzug!

Wer diesem fatalen Drang nachgibt, ist in Nullkommanichts wieder süchtig, hängt am Aufladegerät, verdaddelt über dem Doomscrolling sinnlos seine Zeit. Nach einer Weile aber die Einsicht: So war das eigentlich nicht gedacht! Und schwupps wird wieder Abstinenz geübt. Es ist ein Teufelskreis, dem zu entrinnen den wenigsten gegeben ist. Denn in den sozialen Medien wie auch auf den Nachrichtenportalen lauern hochinteressante Wahlwerbespots, die wider Willen zurück in die Sphäre das Problematischen ziehen, ins Dunkel, in die Katastrophen von Wirtschaft und Politik.

Dagegen hilft der Forschung zufolge nur verschärfter Eskapismus sowie Ignoranz und ein dezidierter Fokus auf Jubel, Trubel, Heiterkeit. Den wenigsten ist zwar der Gleichmut gegeben. Eventuell geht es aber mit Autogenem Training, Yoga, esoterischem Firlefanz. Als Alternative zu Psychopharmaka und Rauschdrogen haben sich auch asiatische Meditationstechniken und Dufttherapien bewährt. Und just an dieser Stelle platzt lustigerweise eine sensationelle Kurznachricht herein: Krass weltfremde Spinner, besagt eine aktuelle Studie, haben eine gute Chance, ihre seelische Gesundheit zu bewahren.

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