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Was kann wichtiger sein als ein Menschenleben?

■ betr.: „Skins jagen Afrikaner: ,Ich bin um mein Leben gelaufen‘“, „Kirchenbrand: Zwei Jahre Be währung gefordert“, „Wenn was dazwischenkommt“, „Jugendkri minalität nimmt nicht zu“ (Berli ner Lokateil), taz vom 4.9.98

Gleich auf mehreren Seiten kommt die taz auf unsere Jugendlichen zu sprechen. Auf Seite 1 berichtet sie von dem Mosambikaner Xaver V., den Skins nachts durch Halle-Neustadt jagten, brutal zusammenschlugen und mit einem Messer verletzten. Ein 17- und ein 21jähriger wurden in Untersuchungshaft genommen. – Weil die evangelische Gemeinde einer algerischen Flüchtlingsfamilie Asyl gewährt hatte, steckte ein 20jähriger die Lübecker St.-Vicelin-Kirche in Brand. Wie die taz auf Seite 7 meldete, wurde der Gärtnerlehrling jetzt zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. – Die ganze Seite 13 ist dem Neustrelitzer Jugendknast gewidmet. – Auf Seite 21 erklingt schließlich der schwache Ruf „Jugendkriminalität nimmt nicht zu“.

Warum aber dann so viel Aufhebens um junge Menschen? Die Antwort ist klar: Weil die Gesellschaft Angst vor der Jugendkriminalität hat, weil sie trotz deren Stillstands oder sogar Rückgangs keinen Grund sieht, sich mit dem erreichten Stand zufriedenzugeben. Das gilt übrigens auch für die Ursachen der Verwahrlosung eines Teils der Jugendichen. Zwei Drittel der Neustrelitzer Häftlinge stammen aus kaputten Familien [...]. Ob es im Neustrelitzer Knast mit ihnen besser wird, das ist die große Frage, denn 245 Jungs zwischen 15 und 26 Jahren teilen sich 180 Haftplätze.

Es ist eine alte Wahrheit: Wer dem schnöden Mammon hinterherjagt, der hat keine Zeit, sich um seine Familie zu kümmern. Die Jagd nach dem Mammon aber bestimmt das gegenwärtige Leben. Sie erzeugt den Haß und die Brutalität des Umgangs.

Und noch etwas: Der junge Afrikaner, der um sein Leben rannte, schrie um Hilfe. Doch mehrere Frauen, die er während seines Laufs traf, antworteten ihm: „Wir haben Wichtigeres zu tun.“ Was aber kann wichtiger als ein Menschenleben sein? Die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den Ausländern ist es, die die Jugend formt.

[...] Trotzdem zweifle ich nicht an denen, die jung sind. Jede Jugend orientiert sich an dem Umfeld, in dem sie aufwächst. Sagen wir diesem Umfeld den Kampf an, dann werden auch immer mehr Jugendliche auf unsere Seite übergehen. Sie tun es heute schon. Ich kannte und kenne viele junge Menschen, die sich ihren Anstand bewahrt und sich in die Front derer eingereiht haben, die den Kampf mit dem kapitalistischen System aufnehmen. Peter Scheitler, Erkner

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