Was folgt aus Stuttgart?: Ein grüner Schily

Um die tief demokratisierte Bundesrepublik gegen ihre Feinde verteidigen zu können, braucht es einen grünen Innenminister, der das Gewaltmonopol befestigt.

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Von UDO KNAPP

„Wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit Ihnen.“ Karl Popper, 1945

Es gehört zum politischen Selbstverständnis der linken und liberalen Öffentlichkeit seit 1968, jeden demonstrativen öffentlichen Akt der Kritik, jede bewusste Verletzung gesetzlicher Normen, jeden Auftritt noch so ausdifferenzierter Identitäten, gleich welcher Natur, jeden rationalen oder irrationalen Gebrauch von Gewalt zur Selbstdarstellung und Selbstbestätigung der eigenen Wahrheiten zu akzeptieren, zu erklären und verständnisvoll vor dem Zugriff von Polizei, Justiz und Staatsapparat zu beschützen.

Diese Haltung hatte damals die historische Logik auf ihrer Seite, lebten die Jungen doch in dem von den Siegermächten demokratisierten, aber vermufften Nachkriegsdeutschland mit vielen ehemaligen Nazis in allen Institutionen und einer weitgehend beschwiegenen und nie breit akzeptierten Verantwortung für und Schuld an den Naziverbrechen. In jedem Polizeieinsatz gegen Demonstranten, in jedem Urteil der Justiz in ihrer Folge und in vielen Staatsakten tauchte sie wirklich und eingebildet immer wieder auf: die deutsche Fratze der Verachtung für alles andere, der Hass auf Individualität, die Verachtung von Freiheit und jeder revoltierenden Suche nach eigenen Wegen in eine eigene Zukunft.

Widerstand gegen Staatsgewalt im Nachkriegsdeutschland

Vor diesem Hintergrund war es richtig und ist es bis heute nachvollziehbar, dass im vollen Bewusstsein der Illegalität dieses Vorgehens alle staatlichen Regeln immer wieder aktiv verletzt wurden. Dass versucht wurde, alle alten Autoritäten von ihren Sockeln zu räumen und Luft zu schaffen für ein endlich erneuertes, in jeder Hinsicht demokratisches Leben. Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ war für tausende junge neue SPD-Mitglieder eine überzeugende Antwort auf dieses Verlangen nach mehr Freiheit.

In den beiden nächsten Jahrzehnten hat sich dann die Bundesrepublik auf vielen Feldern tatsächlich tief demokratisiert. Die Revolte ist gelungen. Die alten Innenminister, die Autoritären in allen Staatsbastionen, wurden weitgehend zur Seite geräumt, aber zugleich gewann eine Kultur des grundsätzlichen Misstrauens gegen alles staatliche Handeln breiten öffentlichen Raum.

Polizisten galten von nun an im allgemeinen Sprachgebrauch als Bullen und jeder Versuch, das staatliche Gewaltmonopol nach innen zu befestigen, wurde kampagnenstark als demokratiefeindlich bekämpft. Auch für viele Grüne gehörte und gehört dieses institutionalisierte Misstrauen gegenüber jeder staatlichen Maßnahme als erst einmal bürgerfeindlich zum strategischen Selbstverständnis.

Demokratiefeindlicher Terror

Heute, vierzig Jahre später, hat sich dieser ehemals politisch um freie Bahn ringende öffentliche Raum von seinen politischen Ursprüngen emanzipiert. Heute wird dieser Raum des Vertrauens auf Freiheit in Selbstverantwortung von Rechtsradikalen, linken Anarchisten, Hooligans und partywütigen jungen Männern besetzt, die Freiheit als anything goes missverstehen, von selbstorganisierten Gegengesellschaften und Clans der organisierten Kriminalität, von Impfgegnern und Verschwörungsgläubigen. Hier werden  Polizisten beim kleinsten Anlass als Nazischweine beschimpft, Feuerwehrleute bei Ihrer Arbeit angegriffen, hier bewaffnen sich echte Demokratiefeinde wie die Reichsbürger, hier werden Imbisse angezündet, Menschen ermordet und Synagogen bewaffnet angegriffen. Wie letztes Wochenende als neuer Tiefpunkt in Stuttgart zu bestaunen, wird der offene Straßenkampf aufgenommen mit Plünderungen, Zerstörungswut und schwer verletzten Polizisten.

Jetzt sind viele entsetzt und empört, aber genau hingesehen, zeigten sich Polizei und Politik hilflos gegenüber dem Terror der Demokratiefeinde. Ihre wahllos um sich schlagende Intoleranz hatte freie Bahn in einem sich ausdehnenden rechtsfreien öffentlichen Raum.

Nach Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ braucht es heute ein deutliches „Mehr Recht, Ordnung und Respekt für die Demokratie“. Nur wer soll das besorgen? Es ist umso wichtiger, weil in den kommenden gesellschaftlichen Verwerfungen der großen ökologischen Wende mit ihren vielen Verlierern freiheitliches Denken und ungeteilter Respekt vor Recht und Gesetz Voraussetzung für ihren Erfolg sind.

Mehr Recht, Ordnung und Respekt für die Demokratie

Otto Schily hat als Innenminister diese Zusammenhänge schon vor Jahren klar im Blick gehabt und sich an die Arbeit gemacht. Die SPD und auch seine alten Freunde bei den Grünen haben ihn fallenlassen und aus dem Amt gedrängt. CDU und FDP sind in Fragen der Inneren Sicherheit heute kaum wirklich handlungsfähig, weil sie Sicherheit immer nur in ihren traditionellen, tendenziell bloß autoritären Mustern wiederherstellen wollen. Damit aber ist die Mitte der Gesellschaft schon längst nicht mehr zu erreichen – und die marodierenden Gesetzlosen in der Gesellschaft gleich gar nicht.

Bleiben die Grünen.

Sie haben ihre Wurzeln in den Zusammenhängen, die in den letzten 40 Jahren mehr Demokratie für alle Bürger erkämpft haben. Sie könnten glaubwürdig und legitim sagen, wir wollen mehr Freiheit überall, für alle und immer, aber Rechtlosigkeit werden wir mit allen staatlichen Mitteln entgegentreten. Aufrüstung und Ausdehnung polizeilicher Befugnisse, eine Respektoffensive gegenüber allen staatlichen Institutionen und eine konsequente Anwendung des Strafrechtes sind geboten. Ein Innenminister von den Grünen, der auf allen Feldern das staatliche Gewaltmonopol befestigt, könnte für die ganze Gesellschaft den friedlichen Rahmen für die große ökologische Wende sichern. Er könnte einer wehrhaften Demokratie (Karl Loewenstein) in unserer Gesellschaft Inhalt und Gestalt verschaffen. Beliebt machen kann sich ein Grüner bei den Bürgern und auch bei seinen Grünen mit einer solchen Aufgabe und einer solchen Politik allerdings nicht. Das aber wird er wissen, bevor das Amt übernimmt – wenn er das Format hat, es auszufüllen.

UDO KNAPP ist Politologe und war der letzte Vorsitzende des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). In der aktuellen Ausgabe von taz FUTURZWEI analysiert er, wie man produktiv damit umgehen kann, dass durch Corona alle ärmer werden.

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