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Archiv-Artikel

WORTMELDUNG Der Akademisierungswahn ignoriert die Realität

ist Philosophieprofessor in München

JULIAN NIDA-RÜMELIN

Wie jeder Wahn sitzt auch der Akademisierungswahn in den Köpfen. Es handelt sich um realitätsferne Vorstellungen, die allerdings Einfluss auf Politik, Gesellschaft und Individuen nehmen.

Zu diesem Wahn gehört die fixe Idee, dass nur ein akademisches Studium für den globalisierten und hoch mobilen Arbeitsmarkt der Zukunft vorbereiten könne. Repetitive Tätigkeiten würden in Zukunft weniger nachgefragt, daher verliere die berufliche Bildung an Bedeutung. Das ist eine realitätsferne Vorstellung, schon deswegen, weil es zahlreiche akademische Berufe mit einem hohen Anteil repetitiver Tätigkeiten gibt und zahlreiche nicht akademische Berufe, die Improvisationstalent, schnelle Auffassungsgabe und hohe Mobilität verlangen.

Im Kern des Akademisierungswahns steht die Abwertung aller Berufstätigkeiten, ja generell von Aktivitäten, die haptischer oder sozialer Natur sind, die eine Nähe zu Dingen oder Menschen verlangen. Die über Jahrzehnte erfolgte kulturelle Abwertung beruflicher Bildung ist in Verbindung mit der in der Mittelschicht zunehmend verbreiteten Abstiegsangst zu einem machtvollen gesellschaftlichen Movens geworden, das sich von Argumenten nur schwer erschüttern lässt.

Die oft selbst erst zur Mittelschicht aufgestiegenen Eltern üben massiven Druck aus, damit ihre Sprösslinge das Abitur erreichen; in der fälschlichen Annahme, dass nur das Abitur die Zugehörigkeit zur Mittelschicht sichern könne.

Die soziologischen Daten sprechen für Deutschland eine ganz andere Sprache: Der überwiegende Teil der Mittelschicht hat keinen akademischen Berufsabschluss. Besonders grotesk ist die Vorstellung, dass die traditionell starke Rolle beruflicher Bildung und die über alle Jahrgänge hinweg niedrige Akademikerquote in Deutschland die soziale Mobilität behindere.

Hohe Akademikerquote, hohe Arbeitslosigkeit

Das Gegenteil ist leicht belegbar: Die „Bildungsgroßmacht“ Großbritannien mit einer doppelt so hohen Akademikerquote und aktuell 64 Prozent Studienanfängern pro Jahrgang hat nicht nur eine doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit und ein niedrigeres Bruttoninlandsprodukt pro Kopf, sondern weist im Vergleich zu Deutschland auch eine katastrophal geringe soziale Mobilität auf. Deutschland ist zusammen mit den skandinavischen Ländern und Kanada in der Spitzengruppe der sozial mobilsten Industrieländer.

In der Tat hat sich das deutsche Bildungssystem, zusammen mit dem österreichischen und dem schweizerischen, seit den späten siebziger Jahren über Jahrzehnte hinweg widerspenstig gezeigt, und erst seit etwas mehr als einer Dekade kommt diese Dynamik in Gang, die seit Jahrzehnten von Deutschland gefordert wurde. In der Fortschreibung wird dies dazu führen, dass fast fünf Millionen Stellen nicht akademischer Fachkräfte zwischen 2010 und 2030 unbesetzt bleiben werden, wie das Bundesinstitut für berufliche Bildung prognostiziert, während in dieser Zeit zusätzlich – trotz demografischer Schrumpfung – 1,7 Millionen Studienabsolventen auf Jobsuche gehen werden. Dies wird zu einem wachsenden Teil unterwertiger Beschäftigung führen, zu weiteren Verdrängungen und in der Folge zu einer Fehlsteuerung des Bildungswesens.

Wir brauchen eine Neujustierung, die sich durchaus in vernünftigen Bahnen lenken lässt, zumal eine moderate Anhebung der Akademikerquote um 50 Prozent von gegenwärtig 18 Prozent auf 27 Prozent der Bevölkerung sinnvoll zu sein scheint. Damit diese immer noch mögliche Entwicklung nicht verfehlt wird, ist allerdings eine Vielzahl von Maßnahmen nötig, zu denen die Aufwertung beruflicher Bildung, auch in Gestalt der staatlichen Förderung von Berufsschulen, gehört, eine stärkere Integration handwerklicher und sozialer Praxis in den gymnasialen Bildungskanon und vor allem eine bessere Bezahlung derjenigen, auf die Wirtschaft und Gesellschaft in Zukunft noch weit mehr angewiesen sein werden als heute. Dazu zählen besonders die betreuenden und pflegenden Berufe.

Mein zentrales Argument ist aber kein ökonomisches, sondern ein kulturelles: Ich plädiere für eine humane Bildung, die nicht selektiert, sondern differenziert, die Menschen mit ganz unterschiedlichen Begabungen und Interessen jeweils attraktive Angebote unterbreitet und es ihnen ermöglicht, ihren eigenen Weg der Bildung und des Berufs zu finden. Ich plädiere für eine Kultur des Respekts, also das Gegenteil von elitärer Abschottung, akademischer Elite.

Ich plädiere für Gleichwertigkeit, nicht für Gleichartigkeit, für Diversität im jeweiligen Bildungssystem und zwischen unterschiedlichen Bildungssystemen weltweit. Chancengleichheit wird nicht durch Nivellierung und Homogenisierung, sondern durch Diversität und gleichen Respekt gesichert.

JULIAN NIDA-RÜMELIN