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Archiv-Artikel

WIKILEAKS, TRENDSETTER „HAMBURGER ABENDBLATT“, TWITTER Das Jugendwort des Jahres 1876 ist wieder da: „Depesche“

Die Erde bebt! Die Zentren der Macht wackeln! Der Fall der Zwillingstürme kommt dem Einsturz eines Strohhauses gleich, gegen diesen Angriff auf die Demokratie!

Man kann den Helm nicht fest genug zurren, so stark ist die Sprengkraft der Wikileaks-Bombe, die bereits durch Belanglosigkeiten, Westerwelle habe „sehr wenig eigene Ideen“, Putin sei ein „Alpha-Rüde“, die Welt erschüttert. Man möchte gar nicht wissen, was noch geschieht, wenn nun all die „Depeschen“ veröffentlicht werden, in denen Mitarbeiter der Deutschen Bank Josef Ackermann als „gewissenlos“ bezeichnen, Sportjournalisten Kati Witt als „Dummschnepfe“ und Historiker Hitler als „Massenmörder“. Immerhin konnte „Panik-TV“, wie das ZDF neuerdings heißt, seine Fähigkeit zur Aktualität durch eine Sondersendung untermauern, die Theo Koll mit dem schönen Satz abschloss: „Für die Amerikaner wird es ein Adventskalender des Grauens.“

Dass das Grauen auch in Deutschland ein Gesicht hat, weiß man nicht erst seit Guido Westerwelle. Neu allerdings ist seine Gestalt. Es kommt in Form eines Wortes daher. „Depesche“ heißt es und breitet sich seit Sonntag aus wie die Cholera in Haiti. Freut man sich sonst über jeden Journalisten, der in der Lage ist, ab und zu ein altertümliches Wort einzusetzen, muss man aktuell den Kopf einziehen, in Anbetracht all der Depeschen, die einem dieser Tage um die Ohren fliegen.

Der Spiegel, Veröffentlicher der Wikileaks-Unterlagen, hatte zuerst den Begriff verwendet, der früher nicht nur für das Telegramm stand, sondern auch für die Eilnachricht unter Diplomaten. So weit, so passend. Schon bei „Anne Will“ hoffte man vergeblich auf einen zweiten Begriff für die Nachrichtenübermittlung. Aber als hätte der Spiegel die ausschließliche Verwendung dieses Begriffs verfügt, flogen die Depeschen im Studio herum, dass es bereits nach wenigen Minuten keine Freude mehr war. Und ihr Flug geht weiter. Kaum eine Zeitung, ein Fernsehbeitrag in denen auch mal Wörter wie „Telegramm“ oder „Kabel“ Verwendung finden, „Mitteilung“, „Nachricht“, „Sendung“ oder gar „Mail“. Schließlich werden ja nicht alle 251.287 Dokumente aus dem Zeitalter des Telegramms sein. Doch alle hängen an der „Depesche“, als ließe sich durch das Ausgraben eines alten Begriffs die Zeit vor dem Untergang des Abendlandes wiederbeleben.

Sich wiederbeleben, sich mit dem Odeur der Jugend benetzen, das möchte das Hamburger Abendblatt. Jene rührende alte Tante, die u. a. einst dem Rechtspopulisten und wahrscheinlich psychisch kranken Roland Schill den Weg in die Hamburger Bürgerschaft ebnete. Sie rühmt sich, das Jugendwort 2010 „Niveaulimbo“ in die Welt gesetzt zu haben. Und zwar bereits im Jahr 2000. Tino Lange, damals 24, erfand das Wort in Anbetracht der Dixi-Klos in Wacken und „schummelte“ es ins Blatt. Weil für seinen Chef die Ernennung zum Jugendwort gleichbedeutend ist mit „als hätte ich das iPad erfunden oder ‚Die Blechtrommel‘ geschrieben“, durfte Tino jetzt die Limbo-Geschichte im Abendblatt aufschreiben. Bei so viel juveniler Zeugungskraft wollen auch wir nicht zurückstehen und trommeln ein dickes „Glückwunsch!“ auf unserer Schreibtischplatte.

Ähnlich wie das A-blatt werde auch ich nicht jünger. Anders als das A-blatt aber toller. Ich komme jetzt per Vogelkurier. Täglich. „Medienfront“ der Name. Um es mit meinem sehr geschätzten Kollegen Kai Schächtele zu sagen: „Wer stellt sich kühn dem medialen Gewitter? Die Burmester-Silke – jetzt auch bei Twitter.“ In diesem Sinne, tschilp-tschilp nach Berlin!

DIE KRIEGSREPORTERIN SILKE BURMESTER berichtet jeden Mittwoch von der MEDIENFRONT Feldpost? Mail an kriegsreporterin@taz.de