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Archiv-Artikel

WIE WIR UNS IN MÄRCHENWELTEN TRÄUMEN Dachbodenmumie statt Krieg

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Es ist Sonntagnachmittag und im Kinderkanal beginnt ein zauberhafter Kinderabenteuerfilm so: Ein zehnjähriger Junge findet auf dem Dachboden seines Großvaters eine Mumie. Das ist vielleicht ein bisschen unglaubwürdig, aber halt, das ist gar kein Film, das ist wirklich passiert, in Diepholz in Niedersachsen.

Es steht in den Zeitungen, es kommt sogar im Fernsehen, es wird spekuliert, jeder sagt mal was dazu, Erich von Däniken ist sich sicher, es handelt sich um ein Menschtier oder einen Tiermenschen, ich kenne mich da nicht so aus, die Menschheit sitzt vor dem Kinderabenteuerfilm und ist fasziniert. Ich mit. Ich verfolge es mehr als den Krieg auf der Welt. Mehr als die Morde und Autounfälle und die Wahlkämpfe. Sicher, die Kette von Angela Merkel ist auch ein Thema, aber die Mumie auf dem Dachboden ist verlockender. Ich rede mit niemandem darüber, weil ich mich ein bisschen schäme, ich verfolge das Mumienthema nur insgeheim. Was ist los mit mir, was ist los mit den Leuten, dass sie so interessiert sind an einer Leiche, die einfach nur vertrocknet und in Binden gewickelt ist, während sie an der frischen Verkehrsleiche lieber vorbeisehen?

Ist es eine Mischung aus Pyramidengruselfilmerinnerungen und Kindererklärungsbücherwissen? Ist es der Mythos, das Märchen, die Chance, in einen Spalt zu schauen, durch ein Schlüsselloch, das einen Ausschnitt verspricht, einen Blick auf den Ort, wo der Zauber wirklich stattfand?

In Wirklichkeit, behaupte ich mal, gab es das ganze Zauberhafte nicht, das Zauberhafte gibt es nirgendwo, als in unserem Kopf. In Wirklichkeit war für die Ägypter zum Beispiel das Leben genauso grau wie uns unseres jetzt manchmal erscheint. Sie gingen einfach ihrer Arbeit nach, und wenn sie die Chance bekommen hätten, mal einen Blick auf unser Leben zu werfen, wären sie mehr vom Zauber der Elektrizität überrascht, als wir es über ihre Grabmäler sind.

Aber mit der Mumifizierung hatten sie so ihre Absichten, und die kommen uns heute mystischer vor, als ihnen damals. Sie wollten die Mumifizierten auf ein Leben nach dem Tod vorbereiten, und das ist in manchen Fällen und in gewisser Weise ja auch gelungen, wenn wir hier, zwischen unseren Computern und dem Straßenverkehr des 21. Jahrhunderts einen vielleicht uralten Körper vor uns liegen haben, der uns brennend interessiert. Wie viel Leben ist in einer Mumie? Schlüpft nicht doch ein bisschen Seele oder Geist aus der Hülle, wenn sie geöffnet wird? Das ist der Unsinn, der uns heimlich beschäftigt und fasziniert.

Man erinnere sich, wie interessiert die Welt am Ötzi war, der seinerzeit als Gletschermumie in den Tiroler Alpen gefunden wurde. Heute kann man ihn lebensecht rekonstruiert im Museum bestaunen, man kann sich über seine Ernährungsgewohnheiten und seine Blutgruppe informieren, man weiß, dass er laktoseintolerant war und Blutgruppe 0 hatte. Herr Ötzi ist im 21. Jahrhundert angekommen, keine Frage. Vermutlich macht genau das einen großen Teil der Faszination aus, der Gedanke, dass es irgendeine Art von Überleben eben doch geben könnte. Dass wir nicht sterben, um nie wieder da zu sein, sondern dass wir zurückkehren könnten. Das ist ein so zauberhafter wie erschütternder Gedanke.

So träume ich mich, träumen wir uns, in eine Märchenwelt, die mit Wissenschaft gar nichts mehr zu tun hat, die Wissenschaftler sind nicht an Mystik interessiert, die messen nur und wollen wissen. Wir aber wollen träumen und an einem Sonntagnachmittag einen Kinderabenteuerfilm sehen. Ganz kurz nur. Ein bisschen nur, bis wir dann die Augen bitte alle wieder öffnen und nach Syrien schauen, wählen gehen und die Verkehrstoten begraben.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen.